Kennung: 4720

München, 30. Dezember 1911 (Samstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Adressat*in

  • Possart, Ernst von

Inhalt

[1.Briefentwurf:]


An den Generalintendanten
Ernst Ritter von Possart
München.


Euer Hochwohlgeboren!

Euer Hochwohlgeboren wollen mir erlauben Ihnen für die liebenswürdige eingehende Beantwortung meiner Fragen den verbindlichsten Dank auszusprechen. Ew. Hochwohlgeboren kann ich leidergestrichen und zugleich für eine Umstellung in die Zeile darunter markiert („großen Bedauern leider“), wobei nicht zu entscheiden ist, ob die Streichung oder die Umstellung zuletzt intendiert war. die Mittheilung nicht ersparen, daß zu meinem großen Bedauern mir Herr Polizeirat Bittinger die mehrfach erbetene Einsicht in die von Seiten der/n/ Zensurbeiräten über meine Arbeitenumgestellt, zuerst: Einsicht in die über meine Arbeiten. abgegebenen Urtheile rundweg verweigerte. mir/und/ daß sich die Polizeibehörde ebenso hartnäckig weigerte sich mit mir auf Erörterungen über von mir vorgeschlagene Streichungen oder Änderungen in den von ihr verbotenen Stücken einzulassen. |

Nach dem Verbot meiner Komödie Oaha wurde Herrn Direktor Stollberg und mir von Herrn Polizeipräsident v. d. Heydte eine Unterredung gewährt. In dieser Unterredung sprach der Polizeipräsident fast ausschließlich selbst und ließ weder Herrn Direktor Stollberg noch mich zu Wort kommen. Während seines unerbetenen Vortrages über die Pflichten des deutschen Schriftstellers, den er uns hielt, produzierte er ein Schriftstück aus dem er folgenden Passus vorlas:

„Das Stück ist nichts als ein zotitgesSchreibversehen, statt: zotiges. Machwerk ohne jeden künstlerischen Werth.“

Aus der Situation war zu schließen daß der Passus einem Gutachten des Zensurbeirates entnommen war. Aus den Andeutungen, die uns der Polizeipräsident uns über die künstlerische Größe und hohe gesellschaftliche Stellung des Gutachters machte, drängte sich mir die Überzeugung auf, daß nur Sie, Herr Generalintendant dieses Urtheil über meine Arbeit gefällt haben konnten.

Mit dem Ausdruck fünfundzwanzigjähriger größter Verehrung und heute noch uneingeschränkter | höchster Bewunderung
zeichnet Euer Hochwohlgeboren
hochachtungs ergebener
FrW.


[2. Abgesandter Brief:]


An den Generalintendanten
Ernst Ritter von Possart.


Ew. Hochwohlgeboren!

Ew. Hochwohlgeboren wollen erlauben, Ihnen für die liebenswürdige eingehende Beantwortungvgl. Ernst von Possart an Wedekind, 29.12.1911. meiner Fragenvgl. Wedekind an Ernst von Possart, 27.12.1911. den ehrerbietigsten Dank auszusprechen. Ew. Hochwohlgeboren kann ich zu meinem Bedauern die Mittheilung nicht ersparen, daß mir Herr Polizeirat Bittinger die mehrfach erbetene Einsicht in die von den Zensurbeiräten über meine Arbeiten abgegebenen Urteile rundweg verweigerte; daß sich die Polizeibehörde drei Jahre lang ebenso hartnäckig weigerte, sich mit mir auf | Erörterungen über von mir vorgeschlagene Streichungen oder Änderungen in den von ihr verbotenen Stücken einzulassen.

Nach dem VerbotGeorg Stollberg, Direktor der Münchner Schauspielhauses, der die vieraktige Komödien-Fassung von „Oaha“ (1911) zur Uraufführung bringen wollte, ersuchte am 19.4.1911 bei der Münchner Polizeidirektion erneut um eine Freigabe des Stücks, das zwischen dem 28.4.1911 und dem 8.5.1911 von Mitglieder des Zensurbeirats begutachtet wurde [vgl. KSA 8, S. 606], „wobei man nur diejenigen um ein Gutachten bat, die sich 1908 negativ geäußert hatten, sowie Dr. Hofmiller, der seit Januar 1911 [...] dem Beirat angehörte.“ [Meyer 1982, S. 200] Die Polizeidirektion beschied Georg Stollberg am 24.5.1911: „Die Aufführung des Schauspiels Oaha von Frank Wedekind wird bzw. bleibt verboten.“ [vgl. KSA 8, S. 620] meiner Komödie „Oaha“ wurde Herrn Direktor Stollberg und mir von Herrn Polizeipräsident v. d. Heydte eine UnterredungWedekind notierte am 2.6.1911 in München: „Audienz mit Stollberg beim Polizeipräsidenten“ [Tb]. gewährt. In dieser Unterredung sprach der Polizeipräsident fast ausschließlich selbst und ließ weder Herrn Direktor Stollberg noch mich zu Wort kommen. Während seines unerbetenen Vortrages über die Pflichten des deutschen Schriftstellers produzierte er ein Schriftstück, aus dem er uns folgenden Passus vorlasDas folgende Zitat ist exakt nicht ermittelt, es liest sich allerdings wie eine knappe Zusammenfassung des „Oaha“-Gutachtens des Gymnasialprofessors Dr. phil. Josef Hofmiller, Mitbegründer- und Mitherausgeber der „Süddeutschen Monatshefte“ [vgl. Meyer 1982, S. 92], der auch als Literatur- und Theaterkritiker tätig war. In seinem Gutachten vom 8.5.1911 heißt es: „Das Stück ist sittlich anstößig [...]. Oaha ist roh, platt, plump, geschmacklos [...]. Einzelne Stellen sind zotig. [...] Ästhetisch ist das Werk überhaupt nicht diskutierbar.“ [Meyer 1982,S. 201f.]:

„Das Stück ist nichts als ein zotiges Machwerk ohne irgendwelchen künstlerischen Werth.“ |

Aus der Situation war zu schließen, daß dieser Passus einem Gutachten des Zensurbeirates entnommen war. Aus den Andeutungen, die uns der Polizeipräsident über die künstlerische Größe und hohe gesellschaftliche Stellung des Gutachters machte, drängte sich mir die Überzeugung auf, daß nur SieErnst von Possart hat „Oaha“ weder begutachtet, noch ist er als Mitglied des Münchner Zensurbeirats mit der Begutachtung des Stücks beauftragt worden., Herr Generalintendant, dieses Urteil über meine Arbeit gefällt haben konnten.

Mit dem Ausdruck fünfundzwanzigjährigervon 1911 aus gerechnet seit 1886, als Ernst Possart ein gefeierter Schauspieler und Schauspieldirektor des Münchner Hoftheaters war. größter Verehrung und heute noch uneingeschränkter höchster Bewunderung zeichnet
Ew. Hochwohlgeboren
ergebener
Frank Wedekind.


München, den 30. Dezember 1911Wedekind notierte am 30.12.1911: „Brief an Possart.“ [Tb].

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 5 Blatt, davon 6 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
1. Briefentwurf: Papier. 14,5 x 22,5 cm. 3 Blatt, 3 Seiten beschrieben. Gelocht. 2. Abgesandter Brief: Kariertes Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 14,5 x 22,5 cm. 2 Blatt, 3 Seiten beschrieben.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Der Briefentwurf ist auf Seite 1 oben links mit lila Buntstift mit der unterstrichenen Ziffer „1.“ versehen.

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    30. Dezember 1911 (Samstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    München
    Datum unbekannt

Erstdruck

Münchener Zeitung

Jahrgang:
1912
Kommentar:
Detaillierter Nachweis: Frank Wedekind und die Zensur. In: Münchener Zeitung, Jg. 21, Nr. 6, 9.1.1912, S. 2. Im Rahmen dieses Artikels, „in welchem auszugsweise Possarts Beantwortung der ‚Sieben Fragen‘ und vollständig Wedekinds Brief an ihn sowie die Depesche Possarts enthalten sind“ [KSA 5/III, S. 780], wurde also neben einem Briefzitat [vgl. Ernst von Possart an Wedekind, 29.12.1911] und einem Telegramm [vgl. Ernst von Possart an Wedekind, 1.1.1912] der vorliegende Brief Wedekinds veröffentlicht, allerdings nicht dem Wortlaut des abgesandten Briefes folgend, sondern bereinigt der Wortlaut des Briefentwurfs, eingeleitet mit den Worten: „Die Antwort Frank Wedekinds an Herrn von Possart lautete:“
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 207 (Entwurf). Wedekind, Frank A I/61 (abgesandter Brief)
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind an Ernst von Possart, 30.12.1911. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (03.12.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

06.07.2024 12:58