[1.Briefentwurf:]
An den Generalintendanten
Ernst Ritter von
Possart
München.
Euer Hochwohlgeboren!
Euer Hochwohlgeboren wollen mir erlauben Ihnen für die
liebenswürdige eingehende Beantwortung meiner Fragen den verbindlichsten Dank
auszusprechen. Ew. Hochwohlgeboren kann ich leidergestrichen und zugleich für eine Umstellung in die Zeile darunter markiert („großen Bedauern leider“), wobei nicht zu entscheiden ist, ob die Streichung oder die Umstellung zuletzt intendiert war. die Mittheilung nicht ersparen,
daß zu meinem großen Bedauern mir Herr Polizeirat Bittinger die mehrfach erbetene Einsicht in die von Seiten
der/n/ Zensurbeiräten über meine Arbeitenumgestellt, zuerst: Einsicht in die über meine Arbeiten. abgegebenen Urtheile rundweg
verweigerte. mir/und/ daß sich die Polizeibehörde ebenso hartnäckig
weigerte sich mit mir auf Erörterungen über von mir vorgeschlagene Streichungen
oder Änderungen in den von ihr verbotenen Stücken einzulassen. |
Nach dem Verbot meiner Komödie Oaha wurde Herrn Direktor
Stollberg und mir von Herrn Polizeipräsident v. d. Heydte eine Unterredung gewährt. In dieser
Unterredung sprach der Polizeipräsident fast ausschließlich selbst und ließ
weder Herrn Direktor Stollberg noch mich zu Wort kommen. Während seines
unerbetenen Vortrages über die Pflichten des deutschen Schriftstellers, den er
uns hielt, produzierte er ein Schriftstück aus dem er folgenden Passus vorlas:
„Das Stück ist nichts als ein zotitgesSchreibversehen, statt: zotiges. Machwerk ohne jeden
künstlerischen Werth.“
Aus der Situation war zu schließen daß der Passus einem
Gutachten des Zensurbeirates entnommen war. Aus den Andeutungen, die uns der
Polizeipräsident uns über die künstlerische
Größe und hohe gesellschaftliche Stellung des Gutachters machte, drängte sich
mir die Überzeugung auf, daß nur Sie, Herr Generalintendant dieses Urtheil über
meine Arbeit gefällt haben konnten.
Mit dem Ausdruck fünfundzwanzigjähriger größter Verehrung
und heute noch uneingeschränkter | höchster Bewunderung
zeichnet Euer Hochwohlgeboren
hochachtungs ergebener
FrW.
[2. Abgesandter Brief:]
An den Generalintendanten
Ernst Ritter von
Possart.
Ew. Hochwohlgeboren!
Ew. Hochwohlgeboren wollen erlauben, Ihnen für die liebenswürdige
eingehende Beantwortungvgl. Ernst von Possart an Wedekind, 29.12.1911. meiner Fragenvgl. Wedekind an Ernst von Possart, 27.12.1911. den ehrerbietigsten Dank auszusprechen.
Ew.
Hochwohlgeboren kann ich zu meinem Bedauern die Mittheilung nicht ersparen, daß
mir Herr Polizeirat Bittinger die mehrfach erbetene Einsicht in die von den
Zensurbeiräten über meine Arbeiten abgegebenen Urteile rundweg verweigerte; daß
sich die Polizeibehörde drei Jahre lang ebenso hartnäckig weigerte, sich mit
mir auf | Erörterungen über von mir vorgeschlagene Streichungen oder Änderungen
in den von ihr verbotenen Stücken einzulassen.
Nach dem VerbotGeorg Stollberg, Direktor der Münchner Schauspielhauses, der die vieraktige Komödien-Fassung von „Oaha“ (1911) zur Uraufführung bringen wollte, ersuchte am 19.4.1911 bei der Münchner Polizeidirektion erneut um eine Freigabe des Stücks, das zwischen dem 28.4.1911 und dem 8.5.1911 von Mitglieder des Zensurbeirats begutachtet wurde [vgl. KSA 8, S. 606], „wobei man nur diejenigen um ein Gutachten bat, die sich 1908 negativ geäußert hatten, sowie Dr. Hofmiller, der seit Januar 1911 [...] dem Beirat angehörte.“ [Meyer 1982, S. 200] Die Polizeidirektion beschied Georg Stollberg am 24.5.1911: „Die Aufführung des Schauspiels Oaha von Frank Wedekind wird bzw. bleibt verboten.“ [vgl. KSA 8, S. 620] meiner Komödie „Oaha“ wurde Herrn Direktor
Stollberg und mir von Herrn Polizeipräsident v. d. Heydte eine UnterredungWedekind notierte am 2.6.1911 in München: „Audienz mit Stollberg beim Polizeipräsidenten“ [Tb]. gewährt. In dieser
Unterredung sprach der Polizeipräsident fast ausschließlich selbst und ließ
weder Herrn Direktor Stollberg noch mich zu Wort kommen. Während seines
unerbetenen Vortrages über die Pflichten des deutschen Schriftstellers
produzierte er ein Schriftstück, aus dem er uns folgenden Passus vorlasDas folgende Zitat ist exakt nicht ermittelt, es liest sich allerdings wie eine knappe Zusammenfassung des „Oaha“-Gutachtens des Gymnasialprofessors Dr. phil. Josef Hofmiller, Mitbegründer- und Mitherausgeber der „Süddeutschen Monatshefte“ [vgl. Meyer 1982, S. 92], der auch als Literatur- und Theaterkritiker tätig war. In seinem Gutachten vom 8.5.1911 heißt es: „Das Stück ist sittlich anstößig [...]. Oaha ist roh, platt, plump, geschmacklos [...]. Einzelne Stellen sind zotig. [...] Ästhetisch ist das Werk überhaupt nicht diskutierbar.“ [Meyer 1982,S. 201f.]:
„Das Stück ist nichts als ein zotiges Machwerk ohne
irgendwelchen künstlerischen Werth.“ |
Aus der Situation war zu schließen, daß dieser Passus einem
Gutachten des Zensurbeirates entnommen war. Aus den Andeutungen, die uns der
Polizeipräsident über die künstlerische Größe und hohe gesellschaftliche Stellung
des Gutachters machte, drängte sich mir die Überzeugung auf, daß nur SieErnst von Possart hat „Oaha“ weder begutachtet, noch ist er als Mitglied des Münchner Zensurbeirats mit der Begutachtung des Stücks beauftragt worden., Herr
Generalintendant, dieses Urteil über meine Arbeit gefällt haben konnten.
Mit dem Ausdruck fünfundzwanzigjährigervon 1911 aus gerechnet seit 1886, als Ernst Possart ein gefeierter Schauspieler und Schauspieldirektor des Münchner Hoftheaters war. größter Verehrung
und heute noch uneingeschränkter höchster Bewunderung zeichnet
Ew.
Hochwohlgeboren
ergebener
Frank Wedekind.
München, den 30. Dezember 1911Wedekind notierte am 30.12.1911: „Brief an Possart.“ [Tb].