Heilbronn
9. AMai 1884.
Lieber guter Franclin.
Ich bitte dich tausendmal um
Verzeihung meiner RücksichtslosigkeitSchreibversehen, statt: wegen meiner Rücksichtslosigkeit.,
und hoffe, daß sich der Riß in unserer Freundschaft noch leicht überbrücken
läßt.
Ich hoffte immer dich auf ein paar Tage in Stein zu sehen, während meiner Anwesenheit dortHermann Plümacher dürfte sich Mitte April 1884 bei seiner Mutter in Stein am Rhein und anschließend in Zürich aufgehalten haben [vgl. Olga Plümacher an Wedekind, 19.4.1884]., doch sollte dieß leider nicht sein
wie du wohl weißt. Ich gratulire dir denn auch von Herzen zu deiner bestandenen, und MaturitätDie Zeugnisübergabe fand am 10.4.1884 statt.. Ich
wollte dießs schon von
Stein aus thun,
doch hatte ich dort so viele Abhaltungen, daß ich gar nicht zum schreiben kam.
Wie ich gehört habe befindest du dich jetzt in GenfNicht an der Universität in Genf, sondern an der Akademie in Lausanne studierte Wedekind mit Erlaubnis seines Vaters 1 Semester neuere Sprachen. auf der Unieversität, um Germanistik zu studiren, daß hört sich
wahrlich besser an, als Pfarrer, Advokat eceteraSchreibversehen, statt: et cetera, (lat.) und so weiter; gemeint sein dürften die Studiengänge Theologie („Pfarrer“), Jura („Advokat“), Medizin (Arzt).. SieSchreibversehen, statt: Sieh. du lieber Freund, ich bin ziemlich genau von
deinem Thun und Treiben unterrichtet, dank deinem lebhaften Verkehr mit meiner MutterWedekind korrespondierte mit Hermann Plümachers Mutter, Olga Plümacher., was mich sehr
freut. Hoffentlich bist du gerne in Genf, und findest gute Cameraden, was ich leider hier nicht so öfter finde, | denn du weißt
ich habe so meine kleinen Liebhabereien, und die jungen KaufleuteHermann Plümacher machte seit Frühjahr 1883 eine Kaufmannslehre in Heilbronn. hier wißen, oft nicht, daß es auch
noch etwas anderes, gibt mit dem man sich unterhalten, kann,
außer Wein, Bier, Liebe, Soll
& Haben, Conto Correntposten, Haupt & Nebenbücher eceteraSchreibversehen, statt: et cetera (lat) und so weiter; aufgelistet sind Fachbegriffe des kaufmännischen Rechnens, insbesondere der doppelten Buchführung..
Wie du vielleicht weißt war ich im Februar auf 2 großen Maskenbällen als Theilnehmer an einer großen Harlequinsgruppe und habe mich köstlich amüsirt,
auch habe ich einzelne hübsche Damen kennengelernt, die ich hin und wieder
jetzt treffe.
Ueberhaubt geht es mir ganz vortrefflich hier in Heilbronn, und ist es nur schade, daß ich dich nicht hier habe.
Doch da fällt mir gerade ein, daß da du
dich so lebhaft um Franziska
interessirstFranziska Steinhauser, die älteste Tochter von Hermann Plümachers Lehrherrn Franz Steinhauser. Über die junge Frau, die er nur aus den Briefen seines Freundes kannte [vgl. Hermann Plümacher an Wedekind, 2.10.1883] schrieb Wedekind schrieb ein Gedicht „AN FRANZISCA“: „Vorüber ist die Rosenzeit / Für dich, mein liebes Täubchen. / So zieh denn hin, du schöne Maid / Und wird ein frommes Weibchen / [...] Mein waches Auge sah dich nie, / Ich sah dich nur in Träumen. / Von dir sang Göttin Poesie / Nur in den schönsten Reimen / [...] Vorüber ist die Rosenzeit, / Das Träumen und das Küssen. / So leb’ denn wol, du schöne Maid! / Ich werde meine Seligkeit / Wo anders suchen müssen.“ [KSA 1/I, S. 145f.; vgl. KSA 1/II, S. 145 (Kommentar)], nun Sie hat Ihren Pfarrer jetzt und ist seit 4 Tagen verlobt. Nu weeste die ist dumm. immt a hiebsches Maderl
a Pfaff. Die muß auf No. 17
wie es in dem Liedchennicht ermittelt. heißt.
Sie hat sich taufen lassen und ist jetzt ProtestantinDie Familie Steinhauser war katholisch. und
das blos wegen einem Pfarrer, der weder reich, noch schön und noch |
sehr gescheidt ist, eine kleine Dorf PfarrereiDer Verlobte, Rudolf Schaefer, war Pfarrer in Untersontheim. besitzt, aber ein gutes großes Maul hatt und zu
imponiren weiß gegenüber dem schönen Geschlecht, Weißt du so Stellungen, ei
rechte Hand im 3 Knopfloch des Rockes linke Hand auf dem Rücken ein Glacehandschuh an. Den andern in der linken
Hand. Brust raus, Kopf zurück, milder Ernst auf den Zügen, l/L/inker Fuß vorgestreckt und auf die Spitze gestellt, und was so
hübsche intersannte
Stellungen mehr sind?! Mit einem Wort ein Papsack. Doch nun zur Tagesordnung
weiter.
Ein L/l/ustiges Stückchen ist mir jüngst passirt. Ein
junger Herr, den ich nicht kenne geht und spottet mich wegen meiner Aussprache
aus. Nun um 12 Uhr Nachts er als er nach Haus geht frag ich Ihn was er
eigentlich bezwecke damit, er sagt Lausbub„schimpfwort für einen schäbigen, unreifen menschen“ [DWB, Bd. 12, Sp. 353, Z. 27]. da hab ich mic/ihm/ eine aufs
Ohr gepflanzt, daß es nur so krachte er schlägt zurück und trifft mich aber
nicht recht. Da hab ich ihm danSchreibversehen, statt: dann. gezeigt, daß trotzdem | die Aussprache der
Schweizer nicht so hübsch ist, als die Schwäbische, die Prügel aber nichts zu
wünschen übrig lassen. Auf einmal rufen meine Freunde die zusahen. Platz;
Polizei kommt. Du hättest sehen sollen wie wir durch die Sträßchen gehetzt
wurden fast eine Stunde lang. Aber kriegen thäten Sie keenen nicht.
Du wirst dich gewiß Photographiren lassenWedekind hatte sich vor seiner Abreise nach Lausanne im Fotoatelier Fr. Gysi in Aarau ablichten lassen und 2 Probeabdrucke zur Auswahl erhalten [vgl. Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 10.5.1884; Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 11.5.1884]. Möglicherweise handelt es sich um das bei Kutscher abgebildete Porträtfoto [(Kutscher 1, S. 6) vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 31]., und dann bekomm
ich doch auch eine gelt Schatz, und läßt bald von dir hören, ich bleibe sicher die
AntwortHinweis auf ein nicht überliefertes Korrespondenzstück: Wedekind an Hermann Plümacher, 16.2.1884. nicht mehr so lange schuldig.
Doch jetzt muß ich schließen, denn ich höre Tritte welche
den Herrn Principal anzeigen. und der darf nicht
wissen, daß ich während der Zeit schreibe.
Also leb wohl lieber Freund und vergeß den
Herman nicht ganz
Viele Grüße an alle die Deinen.
H. Pl.