Lieber Herr Kraus,
ich hätte Ihnen schon vor einigen Tagen geschrieben wenn ich
Zeit für die Sammlung gehabt hätte, die ich dazu gebraucheim Erstdruck: gebrauche (übersehen wurde die Streichung „ge“).. Ich gebe
Ihnen gerne zu, daß ein Verhalten wie meines an jenem Abendam 28.11.1906, der zweite Abend des Besuchs von Karl Kraus in Berlin, von Wedekind als „Skandal mit Kraus“ [Tb] charakterisiert. Karl Kraus kam am 27.11.1906 in Berlin an, um „Frühlings Erwachen“ in den Kammerspielen des Deutschen Theater zu sehen; nach der Vorstellung war Wedekind mit ihm allein im Weinhaus Zum Treppchen (Unter den Linden 56): „Am Vormittag kommt Karl Kraus. Fr. Erw. [...] Nachher mit Kraus bei Treppchen“ [Tb]. Der zweite Abend verlief spannungsreich, was Karl Kraus betraf. Frank und Tilly Wedekind haben mit ihm zunächst im Deutschen Theater eine „Erdgeist“-Vorstellung besucht, anschließend war man gemeinsam in der Weinstube Eugen Steinert (Kurfürstendamm 22), mit dabei der Marionettenkünstler Paul Brann (der atmosphärisch keine Rolle gespielt zu haben scheint) und der Sänger Emil Gerhäuser, wobei Karl Kraus offenbar missgestimmt war und gegen später nicht mitging in die Weinstube Steinert und Hansen (Albrechtstraße 24/25). Wedekind notierte am 28.11.1906: „Erdgeist. Nachher mit Tilly Kraus Gerhäuser und Brann bei Steinert. Skandal mit Kraus. Wir andern gehen nachher noch zu Steinert und Hansen.“ [Tb] Karl Kraus kommentierte das Geschehen, insbesondere Wedekinds Verhalten (einschließlich seiner von Kraus aus dem Gedächtnis zitierten Ausdrucksweise), detailliert in der Fußnote zum Erstdruck des vorliegenden Briefs (siehe das Zitat bei den Hinweisen zum Erstdruck), „zugleich seine ausführlichste Äußerung zum ‚Menschen‘ Wedekind“ [Nottscheid 2008, S. 193]. in das Gebiet GesellschaftlicherSchreibversehen, statt: gesellschaftlicher. – So auch im Erstdruck korrigiert.
Unmöglichkeiten gehört, es schien mir aber offen und ehrlich das einzige Mittel
um zu einer ungezwungenen angeregten Unterhaltung zu gelangen | nachim Erstdruck: gelangen, nach. der ich
ein sehr großes Bedürfnis hatte, ein Bedürfnis, das ich mit vollem Recht auch
bei Gerhäuser voraussetzte, da wir uns die seltenen Male, die wir uns treffen
immerim Erstdruck: treffen, immer. in sehr angeregter ungezwungnerim Erstdruck: ungezwungener. Weise unterhalten. An jenem Abend hatte
ich die feste Überzeugung, daß Sie mit voller Absicht darauf ausgingen uns an
einer solchen Unterhaltung zu hindern, da ich selber sehr wohl weiß wie man
sich verhält, wenn man keine Stimmung und kein allgemeines Gespräch aufkommen
lassen will; und da Sie außer|dem trotz meiner Fragen keine Äußerung taten, die
einer solchen Absicht wiedersprochenSchreibversehen, statt: widersprochen. – So auch im Erstdruck korrigiert. hätte. Ich kann Ihnen versichern daß ich
von Gerhäusers Eintreffen an wie auf Kohlen saß und es giebtim Erstdruck: gibt. doch wohl nichts
Höhnischeres in der Welt als ein Vergnügen, welches keines ist. Heute bei
ruhigerer Überlegung glaube ich nicht mehr daran, daß Sie eine derartige
Absicht hatten, denn was hätte das für einen Zweck gehabt. Aber ebenso wenig
hatte ich die Absicht, Sie irgendwiefehlt im Erstdruck. zu beleidigen oder zu kränken.
Soweit hatte ich geschriebenDie vorangehenden Ausführungen wurden am 11.12.1906 verfasst (siehe die Hinweise zur Datierung des Briefbeginns), ab hier ist der Brief am 13.12.1906 weitergeschrieben worden., | lieber Herr Kraus, als meine
Tilly mir ein Mädchen schenktePamela Wedekind, das erste Kind von Frank und Tilly Wedekind, wurde am 12.12.1906 morgens in der Berliner Wohnung (Kurfürstenstraße 125) geboren – nach einer von starken Wehen der Mutter geprägten Nacht, die am 11.12.1906 begonnen hatten. Frank Wedekind notierte das Geschehen um die Niederkunft am 11.12.1906 („Um 9 Uhr Abend kommt die Hebamme. [...] Ich bleibe zu Hause“) und 12.12.1906 („Um 6 Uhr weckt mich Tilly durch ihr geschrei [...] um 8 Uhr ist Anna Pamela geboren [...]. Um Mittag tritt die Schwester an. Abends kommt Gerhäuser“) im Tagebuch, Tilly Wedekind schilderte es in ihren Lebenserinnerungen: „Es war der 11. Dezember, als die Wehen begannen. [...] Abends kam die Hebamme. [...] Im Laufe des Abends wurden die Wehen häufiger und heftiger. Ich jammerte und schrie. Frank [...] saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb. Ab vier Uhr morgens wurde es arg. Ich schrie. [...] Gegen Morgen steigerten sich die Schmerzen ins Unerträgliche, und um 8 Uhr war das Kind da: eine Tochter.“ [Wedekind 1969, S. 98], dem ich den Namen Anna Pamela
gab. Ich habe nur noch zu wiederholen, daß ich Sie an jenem Abend nur deshalb
nicht aufforderte in die zweite Weinstube mitzukommen, weil ich nicht gerne auf
die Unterhaltung Gerhäusers verzichten wollte, die für mich etwas ungemein
Nervenberuhigendes, wohlthuendesim Erstdruck: Wohltuendes. hat. Eben kommt Ihre FackelHinweis auf ein nicht überliefertes Begleitschreiben; erschlossenes Korrespondenzstück: Karl Kraus an Wedekind, 11.12.1906. – Im übersandten „Fackel“-Heft Nr. 213 vom 11.12.1906 ist Wedekind nicht erwähnt.. Ich werde sie
erst lesen, wenn ich diese Zeilen abgeschickt habe. Ich sende Ihnen die
herzlichsten Grüße
Ihr
Fr Wedekind.
13.12.6.