VERLAG „DIE
FACKEL“
HERAUSGEBER KARL KRAUS
WIEN, IV. SCHWINDGASSE 3.
Wien, 26. Oktober
1906
Lieber und verehrter Herr Wedekind,
für Ihren lieben Briefvgl. Wedekind an Karl Kraus, 23.10.1906. sage ich
Ihnen schönsten Dank. Ich habe die Adresse der Frau F. St., die
ich wohl schon seit einem Jahr nicht gesehen habe, ermittelt: Wien III. Reisnerstraße 41. Bitte, sagen sie mir, was
ich thun soll. Mit Vergnügen stehe ich Ihnen in dieser Sachedie in Wedekinds Brief vom 23.10.1906 beschriebene Angelegenheit seiner vermissten Tagebücher und Manuskripte. zu Diensten, wenn
Sie glauben, daß meine Intervention erfolgreich sein könnte. Wollen
Sie selbst schreiben oder soll ich nächstens hingehen und ganz direkt Ihren
Wunsch überbringen. Vielleicht wäre es am besten, wenn ich – durch eine
gemeinsame Bekannte – gelegentlich einer (wie zufälliges) Zusammentreffen herbeiführte und bloß sondierte? Dies natürlich nur, wenn
Ihnen die Sache nicht allzu sehr eilt. Die Dame steckt voll von Mißtrauen und
ich höre gelegentlich, daß sie sich | immer wieder – bei Bekannten – nach Ihnen
erkundigt. Zuletzt hat sie mich in der Angelegenheit eines talentlosen
Romandichtersnicht identifiziert., den sie protegierte, zum Telephon gerufen.
Ich habe damals – in der Hast der Druckereiarbeit – ziemlich
unverhohlen meine Abneigung gegen eine Conferenz‚conférence‘ (frz.) = Besprechung, Unterhaltung. zum Ausdruck gebracht. Dies
hindert natürlich nicht, daß ich in Ihrer Sache jeden von Ihnen gewünschten
Schritt thue. Ich bitte Sie nur, mir zu sagen, wie, in welcher Form ich
vorgehen soll. Um Sie über die Stimmung der Dame zu unterrichten, will ich
Ihnen nur mittheilen, daß sie auf die ZeitungsnotizDie Presse hatte gemeldet: „Die Direktion des Bürgertheaters hat Frank Wedekinds drei Szenen ‚Totentanz‘ der Zensurbehörde überreicht. Eine öffentliche Aufführung des interessanten Werkes wird Ende Mai, eventuell anfangs Juni im Bürgertheater stattfinden. Die vom Dichter selbst vorgeschlagene Besetzung ist folgende: Don Marquis Casti Piani – Frank Wedekind, Fräulein Elfriede v. Malchus – Adele Sandrock, Herr König – Karl Kraus, Lisiska – Tilly Wedekind.“ [Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg. 7, Nr. 2281, 8.5.1906, S. 11] hier, der „Totentanz“ werde
unter Ihrer persönlichen Mitwirkung in Wien aufgeführt werden, mit dem Ansinnen
an mich herantreten wollte, die Aufführung zu verhindern. Eine
gemeinsame Bekanntenicht identifiziert. hat ihr damals – im Frühjahr – abgerathen, mir mit dieser
grotesken Zumuthung zu kommen. – |
Sie schreiben zum Schluß Ihres Briefs:Es folgt ein Zitat aus Wedekinds Brief vom 23.10.1906. „In der CabaretgeschichteWedekind meinte die Reklame des Künstlerkabaretts Nachtlicht, die Karl Kraus ihm geschickt hatte.
möchte ich nichts vornehmen, bevor die hiesige Censur ihre Entscheidung
gesprochen“. Statt „Cabaretgeschichte“ haben Sie wohl „Totentanz“ schreib
sagen wollen?
Ihrer freundlichen Antwort sehe ich
entgegen.
Wollen Sie bitte Ihrer lieben verehrten Frau meine schönste
Empfehlung bestellen!
Allerherzlichst
stets Ihr
Karl Kraus