VERLAG „DIE
FACKEL“
HERAUSGEBER KARL KRAUS
WIEN, IV. SCHWINDGASSE 3.
Wien, 21. Oktober
1906
Lieber, verehrtermöglicherweise Schreibversehen, statt: verehrter Herr Wedekind., schönsten Dank für den Briefvgl. Wedekind an Karl Kraus, 18.10.1906. und die
interessante BildkarteDie Bildpostkarte zeigt eine Fotografie des Ehepaars Frank und Tilly Wedekind [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 10.10.1906].. Glauben Sie nicht, daß der Überdruß an den Wiener Verhältnissen produktiv macht und die
bessere Zufriedenheit mit dem Berliner Leben unproduktiv? Ich fürchte, daß dies
der Fall sein könnte und widerstehe darum immer wieder der Berliner Lockung,
die in Ihrem Munde freilich besonders liebenswürdig klingt. Ich weiß, daß ich
eines Tages übersiedeln werde, – wenn ich muß. Wenn der Ekel alle
Möglichkeit seiner Verarbeitung übersteigen wird. Ob ich aber dann überhaupt
noch schreiben werde, weiß ich nicht. Ich gienge am liebsten nach
Kopenhagen, ins Land des NervenfriedensDänemark. Karl Kraus hatte seinen Sommerurlaub 1906 auf der dänischen Insel Fanø verbracht.. Berlin scheint mir für eine
literarische Thätigkeit wie es die meine ist, nicht der geeignete
Boden. Schon deshalb, weil ich dort nicht ein Zehntel von dem sagen dürfte, was
ich hier sagen kann. Denn die hiesige Verkommenheit hat doch den Vorzug, daß
auch ihre Controlle verkommen ist. In Preußen spielt man noch Staat und wer
dort gegen den Staat ist, ist Anarchist. Wer hier gegen den Staat ist,
ist schlimmstenfalls ein Preuße. |
Ihr Lockbrief hat ähnlich auf mich gewirkt, wie der ältere
Brief eines LesersDer Brief des „Fackel“-Lesers (nicht identifiziert) liegt dem Brief nicht mehr bei. Wedekind hat ihn per Einschreiben wieder zurückgeschickt [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 23.10.1906]., den ich zufällig gefunden habe und der die Gründe des
geistigen Jammers, in dem wir hier leben, in einer für mich allzu
schmeichelhaften Weise zusammenfaßt. Bitte lesen sie ihn, wenn Sie sich über
die Stimmung eines Theils der „Fackel“-Leser unterrichten wollen, von deren stiller Sympathie ich leider weniger Muth
empfange als Entmuthigung durch von den
geräuschvollen Niederträchtigkeiten, denen ich hierzuland ausgesetzt bin. Ich
bitte Sie sehr, mein lieber Herr Wedekind, mir diesen Brief bald
gefälligst bald zurückzusenden.
Großen Wert lege ich auf Ihr Urtheil über die Nr 208 und 209die „Fackel“-Hefte Nr. 208 vom 4.10.1906 und Nr. 209 vom 20.10.1906. der „Fackel“, die
ich ganz und gar allein geschrieben habe. In Nr.209
habe ich unter den „Antworten“in der „Fackel“-Rubrik „Antworten des Herausgebers.“ Hier hat Karl Kraus die Glosse „Liberaler“ veröffentlicht, in der es heißt: „Die Aufführung von Wedekinds ‚Totentanz‘, die ich – [...] im Bürgertheater – veranstalten wollte, hat die Statthaltereizensur verboten. Natürlich, weil Unmündige hineingehen könnten, die verdorben würden. Ein erprobtes Motiv behördlicher Dummheit.“ [Die Fackel, Jg. 8, Nr. 209, 20.10.1906, S. 15-17, hier S. 16] („Liberaler“) von der/m/ Censuraction
Verbot des „Totentanz“ Notiz genommen. Ich mache Sie besonders auf den Artikel
„Caruso“Karl Kraus stellte in seinem Artikel über das erfolgreiche Gastspiel des berühmten italienischen Tenors Enrico Caruso in Wien Sexualität und Geld als wesentlich heraus: „Die Caruso-Sensation präsentierte die Wiener Menschheit auf der tiefsten Kulturstufe. [...] Die sexuelle Anziehung, die von Individuen ausgeht, deren gut gebauter Kehlkopf das hervorstechende Merkmal ihrer Männlichkeit bildet [...]. Aber lassen wir die Menschen selbst zusehen, wie sie mit ihren Trieben fertig werden: uns obliegt bloß die Feststellung, daß ein ehrlicher Trieb die Ausrede der ‚Kunstbegeisterung‘ nicht braucht. Mag der Tenorist die weiblichen Erwartungen bis zum hohen C spannen, um gegebenen Falls zu beweisen, daß das hohe C ein Anfangsbuchstabe ist, dem keine Fortsetzung folgt – er dient seinem Zweck. Und er tut recht, auf hohe Preise zu halten. [...] Der Besitz eines hypertrophischen Kehlkopfs mag meinetwegen kein Defekt, sondern ein Verdienst sein. [...] es ist nicht notwendig, daß eine ganze Stadt rebellisch gemacht wird, weil ein italienischer Sänger die Gnade hat, uns zu versichern, daß Frauenherzen o wie so trügerisch sind. [...] Festgestellt ist, daß man durch die Ansetzung von Irrsinnspreisen die Gier des Wiener Luxuspöbels dermaßen aufgepeitscht hat, daß der inoffizielle Kartenhandel zu einer noch nicht dagewesenen Einnahmsquelle erwuchs. [...] Ein Tenorist hat unsere Stadt erobert, nicht weil er ein guter, nicht einmal weil er ein berühmter, bloß, weil er ein teurer Tenorist ist.“ [Die Fackel, Jg. 8, Nr. 209, 20.10.1906, S. 12-15] (über das Wesen und Wirkung der Tenorstimme und
über das Wesen ihres G+++++i++++eunleserlich getilgtes Wort.) aufmerksam. Er wird Ihnen die Erinnerung
an Berliner GesprächeKarl Kraus war im Sommer zu Besuch in Berlin, wo Wedekind ihn dem Tagebuch zufolge fast täglich sah – am 15.6.1906 („Dann kommen Kraus und Irma Karschewska“), 16.6.1906 („Am Nachmittag [...] Kraus [...] bei uns“), 17.6.1906 („Abends mit Kraus“), 18.6.1906 („Kraus“), 20.6.1906 („Vormittags mit Kraus [...] bei Barnowski [...] Abends mit Kraus [...] bei Friedrich“), 22.6.1906 („mit Kraus [...] zu Treppchen“) und 23.6.1906 („Nachts mit Kraus im Café Bauer“). über Wiener Erlebnisse wecken. Viel hätte ich Ihnen zu
diesem Thema zu sagen, was sich nicht schreiben lässt ... |
Über den „Totentanz“ schreiben Sie nichts Näheresim oben genannten Brief vom 18.10.1906, in dem Wedekind sich zu den Bemühungen von Karl Kraus um eine Wiener Inszenierung von „Totentanz“ nicht geäußert hat.. Sie haben
jetzt wohl weder Zeit noch Stimmung zur Wiener Aufführung? Aber wäre es nicht
für alle Fälle gut, das Stück vor der Censur zu retten? Es braucht bloß irgendeine
Stelle geändert zu werden, damit wir die formelle Möglichkeit neuerlicher
Einreichung gewinnen.
Wenn’s nur möglich, komme ich zur PremiereKarl Kraus kam zwar nicht zur Uraufführung von „Frühlings Erwachen“ am 20.11.1906 an den Kammerspielen des Deutschen Theaters nach Berlin, besuchte aber die fünfte Vorstellung, wie Wedekind am 27.11.1906 notierte: „Am Vormittag kommt Karl Kraus. Fr. Erw. 5 Nachher mit Kraus bei Treppchen“ [Tb]. von „Frühlings
Erwachen“ nach Berlin.
Irgendwo möchte ich irgendwas spielen oder inscenieren.
Bitte lesen die beiliegende Reklamenotiznicht überliefert. Die Reklame des am 18.9.1906 nach der zwischenzeitlichen Schließung infolge der Nachtlicht-Affäre (siehe Wedekinds Korrespondenz mit Karl Kraus ab dem 5.5.1906) in Wien wiedereröffneten Künstlerkabaretts Nachtlicht dürfte mit Wedekinds Namen geworben haben.. Ich fühle Ihre
Abneigung, sich mit der Bande weiter abzugeben. Aber durch einen einfachen Advokatenbrief
ließe sich doch dem Mißbrauch Ihres Namens ein Riegel vorschieben. Zum Schluß
noch eine Bitte. Ich hörte, daß die Neuausgabedie nach den Zensurprozessen stark veränderte Neuausgabe „Die Büchse der Pandora. Neu bearbeitet und mit einem Vorwort versehen. Drittes bis sechstes Tausend“ [KSA 3/II, S. 865] 1906 im Verlag Bruno Cassirer, die neben den Gerichtsurteilen aus allen drei Instanzen anstelle des Personenverzeichnisses ein Faksimile des Theaterzettels der Wiener Premiere vom 29.5.1905 enthält, der seinerzeit auch in der „Fackel“ faksimiliert war [vgl. Die Fackel, Jg. 7, Nr. 182, 9.6.1905, S. 15]. Wedekind widmete Karl Kraus ein Exemplar und schickte es ihm zu Weihnachten [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 22.12.1906]. der „Büchse“ erschienen ist,
konnte sie aber in vier Buchhandlungen nicht bekommen. Wollen Sie mir mit einem
Exemplar eine Freude bereiten? Ich grüße Ihre liebe verehrte Frau herzlichst
und Sie selbst.
Ganz Ihr
Karl Kraus
aufrichtig ergeb.
Ich bin wieder so dünn wie auf dem beiliegenden Bildenicht überliefert. Karl Kraus, der auf der verschollenen Fotografie schlank ausgesehen haben dürfte, schrieb am 16.1.1907 an Berthe Marie Denk: „Sommerpläne? Wahrscheinlich wieder die Nordsee. Dort bin ich plötzlich dünn geworden. Und seither noch dünner, weil ich fleißig einer Thätigkeit obliege, die mit f. beginnt, nämlich dem Fechten. [...] Alle Leute quälen mich mit der bangen Frage, ob ich denn schwer krank sei. Dabei fühle ich mich ungleich wohler als in den drei Jahren, da mir die – meinem Wesen eben gar nicht organische – Dicke anhaftete.“ [Nottscheid 2008, S. 188; Original: DLA].