12. Sept. 06
Mein lieber und verehrter Herr Wedekind,
in größter Eile theile ich Ihnen mit: Gestern Abend habe ich
in der Direktion des BürgertheatersDirektor und Oberregisseur des am 7.12.1905 eröffneten Wiener Bürgertheaters war Oskar Fronz, sein Sohn Oskar Fronz jun. Stellvertreter des Direktors und Dramaturg [vgl. Neuer Theater-Almanach 1907, S. 623]. Karl Kraus war seit Monaten intensiv um eine Aufführung von „Totentanz“ am Bürgertheater in Wien bemüht (siehe seine Korrespondenz mit Wedekind seit dem 5.5.1906). energisch vorgesprochen und allerlei
Entschuldigungsversuche für die Schlamperei in Sachen der Totentanz-CensurKarl Kraus erklärte in der „Fackel“ zum Wiener Zensurverbot von Wedekinds Stück: „Die Aufführung von Wedekinds ‚Totentanz‘, die ich – [...] im Bürgertheater – veranstalten wollte, hat die Statthaltereizensur verboten. Natürlich, weil Unmündige hineingehen könnten, die verdorben würden. Ein erprobtes Motiv behördlicher Dummheit.“ [Die Fackel, Jg. 8, Nr. 209, 20.10.1906, S. 16]
entgegengenommen. Am 9. August wurde dem Bürgertheater officiell Bis
dahin hörten wir nur den ZeitungsklatschDie Wiener Presse hatte bereits vor dem 9.8.1906 gemeldet: „Die niederösterreichische Statthalterei hat die Szenen ‚Totentanz‘, von Frank Wedekind, zur Aufführung nicht zugelassen.“ [Theaterzensur. In: Die Zeit, Jg. 5, Nr. 1371, 20.7.1906, S. 3] „Wie verlautet, ist die im Bürgertheater projektiert gewesene Aufführung von Frank Wedekinds ‚Totentanz‘ von der Zensur verboten worden.“ [Neues Wiener Tagblatt, Jg. 40, Nr. 203, 25.7.1906, S. 9], und ich konnte absolut nichts machen,
weil das Bürgertheater geschlossen warDie Spielzeit des Wiener Bürgertheaters begann am 1.9.1906 [vgl. Neuer Theater-Almanach 2007, S. 623].. zur Kenntnis gebracht, daß der Totentanz verboten sei. Man
habe dies meiner Administration telephonisch mitgetheilt.
Meine Administration nun hat nie eine ähnliche Mittheilung bekommen,
sonst hätte sie sie mir nach FanöKarl Kraus verbrachte seinen Sommerurlaub 1906 auf der dänischen Insel Fanø. weitergegeben und ich hätte von dort aus den Recurs
ans Ministerium veranlassen können. Leider ist nun die Recursfrist abgelaufen
und ich muß mich | – vorläufig – mit der Versicherung des Herrn Direktors
begnügen, daß er sein Personal rüffeln werde. Wir haben aber faktisch jetzt
zwei Möglichkeiten, doch zu unserem Ziel zu
kommen. Entweder ich versuche die polizeiliche (nicht „censurliche“)
Bewilligung zur Aufführung des Totentanz in einem Saaltheater vor
geladenem Publikum (wie bei der „Büchse der Pandora“) zu erlangen. Das ist wohl
zu machen, aber – wie damals – eine schwierige und langwierige Geschichte
(wegen der Einladungen etc.). Oder: Sie haben die Freundlichkeit, am
Totentanz irgendeine äußerliche Änderung (die
sich auf eine oder ein paar Stellen bezieht) vorzunehmen. Dies gäbe dem
Bürgertheater die Handhabe, den Totentanz noch einmal einzureichen.
| Die voraussichtliche Abweisung, das Verbot würde dann ehestens erfolgen,
aber es wäre eine neue Entscheidung, und wir haben die Recursfrist
offen. Vom Recurs d/a/n das Ministerium verspreche ich mir nämlich
etwas. Der Reichsrathsabgeordnete Baron BattagliaRoger Freiherr von Battaglia, Jurist, Ökonom und Politiker, war am 24.4.1906 im österreichischen Reichsrat unter den „neugewählten Abgeordneten“ [Neue Freie Presse, Nr. 14967, 24.4.1906, Abendblatt, S. 2]., der mir
befreundet ist, interessiert sich für die Aufführung außerordentlich und hat
mir längst zugesagt, daß er sich für die Freigebung beim Minister des InnernMinister des Innern in Österreich war seit dem 2.6.1906 Richard Freiherr von Bienerth. –
er war selbst früher Beamter des Ministeriums des Innern – energisch verwenden
werde. Sicher natürlich ist die Freigabe nicht, aber wir haben wenigstens den
Instanzenzug ausgeschöpft und können dann eventuell noch
zum Verwaltungsgerichtshof gehen oder im Parlament interpellieren lassen. Die
Direktion des Bürgertheaters wartet auf Ihre Entscheidung. |
Wenn Sie gewillt sind, ein paar kleine äußerliche
Textänderungen oder eine kleine Weglassung (nur pro forma)
vorzunehmen, bitte ich Sie, mir gf. sogleich die Stelle oder die Rollen anzugeben. Ich glaube,
daß wir dann sehr bald wieder die Entscheidung der Statthalterei hätten und daß
für den Fall, daß das Ministerium das Werk freigibt, die Aufführung noch in der
ersten Hälfte des Oktober stattfinden könnte.
Mit recht herzlichen Grüßen an Sie und Ihre l. Frau
immer Ihr aufrichtig ergebener
Karl Kraus
Haben Sie vielleicht einen Beitrag für die
wiedererscheinende „Fackel“Das „Fackel“-Heft Nr. 207 vom 23.7.1906 war am 17.7.1906 konfisziert worden. Karl Kraus äußerte sich darüber im nächsten Heft [vgl. Die Konfiskation der ‚Fackel‘. In: Die Fackel, Jg. 8, Nr. 208, 4.10.1906, S. 6-9], für das er Wedekind hier um einen Beitrag bittet.? Das wäre herrlich!