VERLAG „DIE
FACKEL“
HERAUSGEBER KARL KRAUS
WIEN, IV. SCHWINDGASSE 3.
Wien, 27. Mai 1906
Lieber und verehrter Herr Wedekind!
In größter Arbeitshast theile ich Ihnen – mit schönstem Dank
für Ihre l.
Depeschenicht überliefertes Telegramm; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Karl Kraus, 26.5.1906. – mit, dass ich aus guten QuellenQuelle war wohl Erich Mühsam, der anlässlich von Wedekinds offenen Brief [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 9.5.1906] in der „Fackel“ [vgl. Die Fackel, Jg. 8, Nr. 203, 12.5.1906, S. 23f.] irrtümlich von einer Klage gegen Wedekind ausging sowie Kontakt mit ihm aufzunehmen suchte [vgl. Erich Mühsam an Wedekind, 29.5.1906 und 2.6.1906] und jedenfalls Karl Kraus am 8.6.1906 über den Berliner Rechtsanwalt Hugo Caro schrieb: „Caro hat also die Henry-Sache übernommen, und machte, als ich ihm die ‚Fackel‘ zeigte, ein langes Gesicht. Er fand, daß Henry die ganze Sache so dumm wie möglich angefangen hat, und meint [...], daß die Sache sicher mit einem faulen Vergleich schließen würde, in dem sich beide Beteiligte gegenseitig für Ehrenmänner erklären werden. Wenn aber Wedekind Gegenklage erhebt, so meine er [...], daß Henry bös abfahren wird und Wedekind sicher mindestens das erreichen kann, daß Henry die Kosten für die ganze Geschichte zahlen muß. W. muß also – wenn er’s noch nicht getan hat – sofort Henry wegen der ‚N.[euen] W.[iener] Journal‘-Notiz verklagen.“ [Jungblut 1984, S. 71] erfahren habe, Herr Vaucheret und die Marie
Biller-Delvard hätten
bereits einen Berliner AnwaltHugo Caro, Rechtsanwalt beim Kammergericht in Berlin (Friedrichstraße 198/199) [vgl. Berliner Adreßbuch 1906, Teil I, S. 296], war einer von Erich Mühsams „Verteidigern“ [Mühsam 2003, S. 135] und mit ihm „befreundet“ [Nottscheid 2008, S. 382]., Herrn Dr
Caro, mit der Klage gegen
SieEine Klage Marc Henrys gegen Wedekind „kam ebenso wenig zustande wie die hier von Kraus angeregte Gegenklage“ [Nottscheid 2008, S. 178]. betraut. Nun erlaube ich mir, Ihnen einen Anwalt zu empfehlenDr. Hugo Heinemann, Rechtsanwalt in Berlin (Kronenstraße 8/9) [vgl. Berliner Adreßbuch 1906, Teil I, S. 787], hatte Karl Kraus 1898 bei der Planung einer eigenen Zeitschrift – „Die Fackel“ kam dann 1899 heraus – beraten [vgl. Fischer 2020, S. 1043]. Ein offener Brief des Rechtsanwalts ist in einem der ersten „Fackel“-Hefte publiziert, die Anrede: „Lieber Freund“ [Die Fackel, Jg. 1, Nr. 9, Ende Juni 1899, S. 1-6, hier S. 1]., der mich
öfter schon – in Berlin – in der vorzüglichsten Weise vertreten hat und der
sich mit Begeisterung Ihrer Sache annehmen wird: Dr Hugo Heinemann Berlin W. Kronenstr. 8 und 9. Das „Neue Wiener
Journal“ (das Diebsblattvon Karl Kraus häufig benutzter Begriff, der „sich auf die gängige Praxis vieler Zeitungen“ bezieht, „anderweitig erschienene Berichte ohne Angabe der Quelle nachzudrucken“ [Nottscheid 2008, S. 179]. beflegelt jetzt den RichterDas „Neue Wiener Journal“ hatte das am 25.5.1906 gefällte Urteil (einen Monat Arrest für Marc Henry, 300 Kronen Geldstrafe für Marya Delvard, Freispruch für Karl Kraus) des Richters Karl von Heidt (siehe die Beilage zum vorliegenden Brief) dadurch zu diskreditieren gesucht, dass es unterstellte, es handle sich um ein „Tendenzurteil“ und ausführlich einen namentlich nicht genannten Juristen („Einer unserer ersten Anwälte“, „Ausführungen des hervorragendsten Juristen“) zitierte: „Das Urteil erregt in der Tat größtes Befremden, und es hat den Anschein, als ob die Erwägungen des Richters sehr vorherrschend von Impulsen beherrscht waren, die wesentlich dem Temperament des richterlichen Funktionärs entsprangen. [...] die verhängte Strafe ist drakonisch und sicherlich in schreiendstem Mißverhältnis zur angesetzten Tat.“ [Die Züchtigung des Karl Kraus vor Gericht. Ein Urteil des Landgerichtsrates Heidt. In: Neues Wiener Journal, Jg. 14, Nr. 4522, 26.5.1906, S. 9], der das Urtheil gegen
Henry und Delvard gefällt hat) liegt in Berlin in etlichen Kaffeehäusern auf.
Der Nachweis der Verbreitung in BerlinKarl Kraus bezieht sich auf Marc Henrys offenen Brief an die Redaktion des „Neuen Wiener Journal“ über Wedekind [vgl. Mr. Henry und Frank Wedekind. Eine Zuschrift. In: Neues Wiener Journal, Jg. 14, Nr. 4515, 19.5.1906, S. 4; Beilage zu Karl Kraus an Wedekind, 19.5.1906]; um „aufgrund von Henrys beleidigender Stellungnahme [...] Klage erheben zu können [...], musste der Nachweis ihrer Verbreitung in Berlin, Wedekinds damaligem Wohnort, erbracht werden.“ [Nottscheid 2008, S. 179] Wedekind erhob keine Klage, in seinem Nachlass ist bei den Briefen von Karl Kraus aber ein Zeitungsausschnitt aus der Zeitung „Die Wahrheit. Freies Deutsches Wochenblatt“ [Jg. 2, Nr. 22 (mehr aus dem Ausschnitt nicht ersichtlich)] erhalten [Mü, FW B 88], die in Berlin erschien [vgl. Berliner Adreßbuch 1906, Teil II, S. 96] und in der die Ausführungen Henrys aus dem „Neuen Wiener Journal“ vollständig nachgedruckt sind. Wedekind hat mit blauem Buntstift auf den Titelseitenausriss nicht nur „Die Wahrheit“ notiert, sondern mit blauem Buntstift auch die Überschrift „Cabaretgrößen vor dem Kadi“ und den Titelnachweis („Mr. Henry und Frank Wedekind“) unterstrichen; der erste Absatz lautet: „Wie wir über eine Anzahl von den Herrschaften denken, daraus haben wir nie einen Hehl gemacht. Eine kleine Illustration unserer Auffassung sei heute hier veröffentlicht. Es handelt sich dabei um das ‚beste deutsche Cabaret‘, die ‚Scharfrichter‘. Da veröffentlichte neulich das ‚Neue Wiener Journal‘ folgende sehr amüsante Zuschrift des Herrn ‚Henry‘, Leiter dieses Instituts, unter der Spitzmarke: ‚Mr. Henry und Frank Wedekind‘:“ (es folgt der Nachdruck). wird ohneweiteres zu erbringen
sein. | Und ich hoffe, daß Sie dann gleich Gegenklage gegen den Verfasser des
Briefs an SieMarc Henry als Verfasser seines Wedekind betreffenden Briefs an die Redaktion des „Neuen Wiener Journal“ (siehe oben). (der hier und in München allgemeine
Empörung geweckt hat) erheben werden. In der Sache Olly BernhardyOlly Bernhardy, seinerzeit in München Ensemblemitglied im Kabarett Die Elf Scharfrichter, sah sich Verleumdungen durch Marc Henry, den Leiter des Kabaretts, und Marya Delvard, Diseuse bei den Elf Scharfrichtern, ausgesetzt, gegen die sie klagte, was vor Gericht am 19.6.1902 verhandelt wurde und zu einem Vergleich führte (siehe unten), publik gemacht in einer „Bekanntmachung“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 55, Nr. 294, 28.6.1902, Vorabendblatt, S. 7 oder 8 (die Seiten fehlen im eingesehenen Exemplar)], die Karl Kraus nachdruckte [vgl. Die Fackel, Jg. 8, Nr. 204, 31.5.1906, S. 27f.]. ist seinerzeit kein Urtheil
gefällt worden, sondern vor dem sicheren Ausspruch einer Arreststrafe Olly Bernhardy schreibt mirHinweis auf einen Brief, der nicht überliefert ist. Dazu Karl Kraus: „‚Meiner Liebenswürdigkeit‘ – so schreibt mir Fräulein Olly Bernhardy – ‚verdanken es die Angeklagten, daß ich nicht auf dem Äußersten bestand, was ihnen eine Freiheitsstrafe eingetragen hätte. Ich hätte dadurch meine übrigen Kollegen empfindlich geschädigt, weil alsdann das Cabaret der Elf Scharfrichter unmittelbar zusammengebrochen wäre‘.“ [Die Fackel, Jg. 8, Nr. 204, 31.5.1906, S. 28], daß sie auf die
Bitte der Scharfrichter-Collegen von dem Bestehen auf einer formellen
Verurtheilung abließ.
ein gerichtlicher AusgleichIm Münchner Verleumdungsprozess vom 19.6.1902 kam es zu einem Vergleich, ein Ergebnis, das auf richterliche Anordnung in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ publik gemacht werden musste, in einer am 28.6.1902 veröffentlichten „Bekanntmachung“ (siehe oben), die Karl Kraus nachdruckte: „In der Privatklagesache der Schauspielerin Olga Stoe, genannt Bernhardy, gegen 1. Achille Vaucheret, genannt Henry, Schriftsteller, 2. Marie Biller, genannt Delvard, Sängerin, kam in der öffentlichen Sitzung des Schöffengerichtes beim königl. Amtsgerichte München I vom 19. Juni 1902 [...] folgender Vergleich zu stande: 1. Herr Achille Vaucheret, genannt Henry, erklärt, daß er die klagsgegenständigen Äußerungen nicht getan habe und daß er auf das tiefste bedauere, falls er durch irgend eine Äußerung zur Verbreitung der bezüglich der Privatklägerin im Februar oder März l. J. umlaufenden Gerüchte beigetragen habe. 2. Fräulein Marie Biller, genannt Delvard, erklärt, daß sie die klagsgegenständigen Äußerungen nicht getan, daß sie aber allerdings durch eine Äußerung zur Verbreitung jener Gerüchte beigetragen habe, dies aufs tiefste bedauere und sich verpflichte, binnen vierzehn Tagen von heute ab eine Buße von M. 50 – fünfzig Mark –, welche an die Unterstützungskasse des Journalisten- und Schriftsteller-Vereines abgeführt werden soll, zu Handen des klägerischen Vertreters zu bezahlen. 3. Die beiden Privatbeklagten erklären weiterhin, ‚daß jene Gerüchte nach ihrer Überzeugung jeder tatsächlichen Grundlage entbehren.‘ 4. Beide Angeklagte übernehmen sämtliche Kosten des Verfahrens einschließlich der der Privatklägerin erwachsenen notwendigen Auslagen und willigen ein, daß der gegenwärtige Vergleich auf ihre – der beiden Privatbeklagten – Kosten einmal in den Münchner Neuesten Nachrichten veröffentlicht werde.“ [Die Fackel, Jg. 8, Nr. 204, 31.5.1906, S. 27f.] Die Sachlage war auch einem Pressebericht zu entnehmen [vgl. Aus dem Kreise der Elf Scharfrichter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 55, Nr. 281, 20.6.1902, Vorabendblatt, S. 4], der Karl Kraus ebenfalls vorlag, da er aus ihm zitierte. geschlossen worden. Das läuft natürlich moralisch
auf dasselbeKarl Kraus über die in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ abgedruckte „Bekanntmachung“ (siehe oben) des Vergleichs: „Eine Aburteilung im technisch-juristischen Sinne ist nicht erfolgt. Gewiß eine im moralischen Sinn. Gerade die Behauptung Wedekinds ist ein Beweis dafür, daß man damals – vor vier Jahren – in allen künstlerischen und literarischen Kreisen Münchens, in denen man heute über die nachtlichtgeborenen Taten empört ist, die ‚gütliche‘ Austragung der Affaire als regelrechte Verurteilung der beiden Angeklagten empfand. Die Klägerin hat ja bei diesem Ausgleich keine andere Konzession gemacht, als daß sie nicht auf der Bestrafung bestand.“ [Die Fackel, Jg. 8, Nr. 204, 31.5.1906, S. 28] hinaus, und das Paar hat gar keinen Grund, sich in Berichtigungen
aufs hohe Roß zu setzen. Olly
Bernhardy sendet mir
dieser Tage das Material, das ich Ihnen dann natürlich alsbald zur Verfügung
stellen werde, und schreibt mir, daß sich beide, Henry und Delvard, damals zur Zahlung einer Buße
von 150 Mtatsächlich 50 Mark – der von Karl Kraus nachgedruckten „Bekanntmachung“ in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ zufolge (siehe oben), bestätigt durch einen Pressebericht: Marya Delvard hatte „binnen 14 Tagen eine Buße von 50 M an den Münchner Journalisten- und Schriftstellerverein abzuführen.“ [Aus dem Kreise der Elf Scharfrichter. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 55, Nr. 281, 20.6.1902, Vorabendblatt, S. 4] an die Schriftstellercasse, zur
Tragung der Proceßkosten, zur Rückziehung der Beschuldigung und zur Abbitte in vier
Blättern verpflichten mußten.
Hier ein sehr lückenhafter, aber ganz anständiger | Bericht
über meinen Prozeßdie Beilage zum vorliegenden Brief, ein Zeitungsausschnitt aus der „Illustrierten Kronen-Zeitung“ [vgl. Eine Prügelszene im „Casino de Paris“. Karl Kraus gegen Monsieur Henry. In: Illustrierte Kronen-Zeitung, Jg. 7, Nr. 2299, 26.5.1906, S. 11-12]. (etliche Zeugenaussagen sind gar nicht erwähnt). Die
kläglichste Rolle hat Herr Karl
Hollitzer, der Mann, dem
wir einmal unsere Photographien gewidmet haben, in der Verhandlung gespielt.
Die Klage gegen mich war die größte Gerichtsfarce und juristische
Blamage, die hier seit langem erlebt wurde.
Vorgestern telephonierte mir die Polizei, daß der TotentanzDie Wiener Zensur gab „Totentanz“ nicht frei.
an die Statthalterei-Censur endlich
abgegangen ist. Haben Sie eine besonders günstige Journalbesprechung über die Aufnahme
des Werkes in NürnbergDie Uraufführung von „Totentanz“ 2.5.1906 am Intimen Theater in Nürnberg unter der Regie von Emil Meßthaler mit Frank und Tilly Wedekind in Hauptrollen „wurde laut Kritik mit vollem Befall aufgenommen.“ [KSA 6, S. 670], die man dem Censor zeigen könnte? Der Polizeirath
empfahl mir dies. Ich habe für alle Fälle die Berichte der Frankfurter Ztg., M. Neuesten
Nachrichten und Berliner Tagblatt durch ein Ausschnittbureau bestellt.
Wie geht es Ihrer lieben Frau? Unser Wiedersehen in einem
Ensemblebei einer erhofften Wiener Inszenierung von „Totentanz“, wie im Vorjahr bei „Die Büchse der Pandora“ (siehe unten). würde mich außerordentlich freuen. Übermorgenam 29.5.1906, an dem Wedekind notierte: „Jahrestag der Wiener B.d.P.“ [Tb] Genau vor einem Jahr – am 29.5.1906 – fand in Wien die von Karl Kraus veranstaltete Premiere der „Büchse der Pandora“ statt, mit ihm in der Rolle des Kungu Poti, Tilly Newes als Lulu und Wedekind als Jack. ists ein Jahr seit der
„Büchse der Pandora“.
Die schönsten Grüße Ihnen beiden
von Ihrem herzlichst ergebenen
Karl Kraus
Der AnwaltDr. Ludwig Herzberg-Fränkel, der Rechtsanwalt von Marc Henry und Marya Delvard (siehe die Beilage zum vorliegenden Brief), der Karl Kraus zwei „Berichtigungen“ (siehe unten) zum Abdruck in der „Fackel“ geschickt hat. des Henry und der Delvard hat mir – vor der
neulichen Aburtheilungdas am 25.5.1906 gesprochene Urteil im Prozess zur Nachtlicht-Affäre (siehe die Beilage zum vorliegenden Brief). – zwei Berichtigungen Ihres BriefsKarl Kraus druckte eine Berichtigung zu Wedekinds offenem Brief [vgl. Wedekind an Karl Kraus, 9.5.1906] in der „Fackel“ [vgl. Die Fackel, Jg. 8, Nr. 203, 12.5.1906, S. 23f.] wiederum in der „Fackel“ ab, die auf Wien, 23.5.1906 datiert und mit den Worten „Ich erhalte die folgende Zuschrift:“ eingeleitet ist: „Herrn Karl Kraus, Herausgeber und verantwortlicher Redakteur der ‚Fackel‘, Wien. Im Vollmachtsnamen des Fräulein Marya Delvard ersuche ich unter Bezugnahme auf § 19 Pr. G. am Aufnahme nachstehender Berichtigung der in der Nr. 203 der ‚Fackel‘ veröffentlichten Zuschrift des Herrn Frank Wedekind, ddo. Berlin, 9/5 1906. Es ist unwahr, daß Marya Delvard sich ihrer hübschen Kolleginnen bei den Elf Scharfrichtern dadurch zu entledigen suchte, daß sie von ihnen erzählte, sie litten an ansteckenden Geschlechtskrankheiten. Es ist unwahr, daß Marya Delvard wegen solcher Verleumdungen überhaupt und insbesondere vor etwa drei Jahren vom Landgerichte München zu einer beträchtlichen Geldstrafe verurteilt wurde. Wahr ist es, daß Marya Delvard in München durch Herrn Frank Wedekind in einen Ehrenbeleidigungsprozeß verwickelt worden war, wahr ist es, daß dieser Prozeß vor Fällung eines gerichtlichen Erkenntnisses gütlich ausgetragen wurde. Hochachtungsvoll Dr. Herzberg-Fränkel.“ [Die Fackel, Jg. 8, Nr. 204, 31.5.1906, S. 26] übersendet, die ich,
da sie formell ungesetzlichKarl Kraus kommentierte die von ihm abgedruckte Berichtigung des Rechtsanwalts Ludwig Herzberg-Fränkel (siehe oben): „Unkenntnis des Gesetzes schützt diesen Advokaten, der seinen Doppelnamen so gern gedruckt sieht, nicht vor der Strafe, daß ich seine Berichtigung wirklich abdrucke. Er hat mir auch ein § 19-Schreiben ‚im Vollmachtsnamen‘ des Herrn Achille Vaucheret geschickt, dessen Veröffentlichung ich jedoch taktvoll unterlasse, weil sie einer allzu grausamen Verspottung der juristischen Kenntnisse des Herrn Dr. Herzberg-Fränkel gleichkäme. Aber er hat sich nicht damit begnügt, für seine beiden Klienten ungesetzliche Berichtigungen zu verfassen, sondern freudig die Gelegenheit benützt, seinen eigenen Namen mit dem eines Frank Wedekind zu verknüpfen, und so sich persönlich unter Bezugnahme auf § 19 zum Vertreter der Unwahrheit gemacht. Wenn nämlich die Klientin dieses oftgenannten Advokaten, wenn Marya Delvard wirklich nie von einer hübschen Kollegin bei den Elf Scharfrichtern erzählt hätte, was in dem Brief Frank Wedekinds zu lesen ist, so hätte unmöglich in der Nr. 294 vom 28. Juni 1902 der ‚Münchener Neuesten Nachrichten‘ in balkendicken Lettern das Folgende erscheinen können:“ [Die Fackel, Jg. 8, Nr. 204, 31.5.1906, S. 26f.] – es folgt die „Bekanntmachung“ (siehe oben). sind, vorläufig nicht drucke.
[Beilage:]
Eine Prügelszene im
„Casino de Paris“.
Karl Kraus gegen Monsieur Henry.
Der kleine Saal des Bezirksgerichts Josefstadt bot gestern
ein eigentümliches Bild. Eine dichtgedrängte Zuschauermenge, die sich aus
Personen zusammensetzte, die man sonst nicht häufig im Gerichtssaal erblickt:
Schriftsteller und solche, die sich dafür ausgeben, ständige Besucher der
vornehmen Nachtcafés, Schwärmer für das „Cabaret“ (jene neuartige Form des
„Ueberbrettl“, wobei sich das Publikum nicht unterhalten, sondern „amüsieren“
will), übermodern gekleidete und frisierte Damen. Auf der Anklagebank saßen die
Größen des Cabarets „Nachtlicht“ Monsieur Henry
und seine überschlanke Kollegin Maria Delvard. Diese Dame gilt bei
Eingeweihten als die eigentliche Urheberin des Prozesses. Seinerzeit hatte die
Delvard, deren Bescheidenheit gewiß nie sprichwörtlich werden wird, öffentlich
erklärt, daß die hellsten Sterne der französischen Kunstwelt sie um ihre Vielseitigkeit beneiden. Der Kläger Karl Kraus
hatte daraufhin einen Artikel veröffentlicht, in welchem er dieses Selbstlob
kritisierte. Henry und die Delvard gerieten in eine fürchterliche Wut, die bald
zum Ausbruche kam. Monsieur Henry überfiel einige Tage später
den Kläger im „Casino de Paris“ und mißhandelte ihn derart, daß Karl Kraus
ohnmächtig wurde. |
Auch Maria Delvard soll damals, trotz ihrer Zartheit, auf
den wehrlosen Karl Kraus tüchtig eingehauen haben.
Der
Verhandlungsbericht.
Den Vorsitz in der Verhandlung führte Landesgerichtsrat Dr. v. Heidt. Es wurde zugleich über zwei Klagen verhandelt; in der ersten
war der Herausgeber der „Fackel“, Karl Kraus, der Kläger, der Direktor
des Cabaret „Nachtlicht“ Herr Henry, und seine Kollegin Maria Delvard die Angeklagten. Die zweite
Klage war von Henry und Delvard gegen Karl Kraus eingebracht worden. Gegenstand
der ersten Klage bildet eine Szene, die sich in der Nacht vom 29. auf den 30.
April im „Casino de Paris“ abgespielt hat und in der Karl Kraus von Henry
leicht verletzt worden ist. Henry und die Delvard sind wegen vorsätzlicher leichter Körperverletzung,
ferner wegen wörtlicher
Beleidigung des Herrn
Karl Kraus, dieser (in der zweiten Klage) wegen Beleidigung des Monsieur Henry
angeklagt.
Der Ueberfall.
Die Anklage gegen Henry und die Delvard enthält in Kürze
folgende Darstellung: Kraus kam mit den Herren Egon Fridell
und Erich Mühsam ins Casino de Paris; an
einem Nebentische saß bei der Cabaret-Gesellschaft der Schriftsteller Peter Altenberg. Kraus, der mit diesem auf
gespanntem Fuße stand, behauptet nun, er habe sich mit ihm einen Scherz machen
wollen, der zur Versöhnung führen sollte, und habe Altenberg ein Kuvert mit 10
Kronen Honorar geschickt. Dies habe Henry dazu benützt, aus Rache für eine
Glosse in der „Fackel“, Herrn Altenberg aufzustacheln, und er habe ihn, Kraus,
beschimpft. Fräulein Delvard habe ihn gleichfalls beschimpft und gerufen: „Idiot ... so ein alberner
Aff’!“ Trotz seiner
Erregung habe Kläger nichts erwidert. Herr Mühsam habe intervenieren wollen,
doch habe Henry ausgerufen: „Ich bin Franzose und lasse mich von einem
Deutschen nicht belehren, noch dazu von einem Juden.“ Kläger wollte sich mit
Herrn Mühsam entfernen, wurde aber von den Kellnern zurückgerufen, „da ein Verehrer
aus Ungarnvon Karl Kraus unterstrichen. mit ihm dringend sprechen wolle“von Karl Kraus nach dem Zitat in Klammern ein Fragezeichen gesetzt: wolle“ (?).. Dies habe Herr Henry zu einem
weiteren Ueberfalle benützt und mit dem Rufe: „Jetzt hab’ ich den Kerl!“ auf ihn losgeschlagen; er sei gestürzt, geschleift worden und Mr. Henry habe seinen Kopf mit den Fäusten bearbeitet. Kläger sei halb ohnmächtig am Boden gelegen, als noch
Fräulein Delvard herbeikam und mit den Worten: „Hier noch Eins von mir!“ ihn wütend auf Nase und Augen schlug und erklärte,
ihn töten zu wollen; es sei dies nicht genug, er müsse ganz
hin werden, ganz Wien würde ihr danken, von dieser Pest befreit zu sein, man
würde für sie Messen lesen. Kläger wurde auf einen Sessel gesetzt, da er ohnmächtig war. Schließlich widerlegt
die Klage die Behauptung, als sei Henry damals trunken gewesen, denn er habe
den ganzen Vorfall gleich damals und auch am folgenden Tage verschiedenen
Journalisten haarklein triumphierend erzählt.
Das Zeugenverhör.
Als erster Zeuge wurde der Schriftsteller Erich Mühsam vernommen. Er erklärte, daß
sich der Angeklagte Henry über Karl Kraus in heftigen Schimpfworten ausgelassen habe, worauf
Zeuge selbst aus eigenem Antriebe zu dem Tisch hinüberging und ihn ersuchte,
die Beschimpfungen zu unterlassen; allein Henry habe ihm erklärt, er sei ein Franzose und lasse sich von
Deutschen nicht belehren, insbesondere nicht von einem Juden.
Als er (Zeuge) sich daraufhin entfernte, habe ihm Henry noch das Wort „Jude!“
nachgerufen. Was die Prügelszene selbst betrifft, bestätigt
der Zeuge im Wesentlichen die Darstellung des Karl Kraus und fügt noch hinzu,
daß seiner Ansicht nach Henry nicht
betrunken war.
Der nächste Zeuge Schriftsteller Alexander Roda Roda erklärt, daß Henry sowie
seine ganze Tischgesellschaft über Karl Kraus sehr erbost waren. Was den
Hergang der Prügelszene betrifft, kann Roda Roda nur angeben, daß er plötzlich
Henry über Karl Kraus, der an einer Tür lehnte, vorgebeugt sah und über beide,
sowohl über Henry als auch über Kraus, habe sich dann die Delvard gebeugt. Die Delvard sei in
dem Rummel herumgerissen worden, und er, Zeuge, habe sein ganzes Augenmerk
darauf gerichtet, die Delvard zu schützen. Er habe sie beim Handgelenk
festgehalten, sie habe sich jedoch losgerissen. Sonstiges kann Zeuge über die
Szene nicht angeben. Der Zeuge bestätigt nochmals, daß der Angeklagte Henry an
jenem Abend überaus
aufgeregt war.
Henry rühmt sich der
Tat.
Zeuge Ladislaus Roth, Kapellmeister im Cabaret
„Nachtlicht“, wird vom Klagevertreter
befragt, ob es richtig sei, daß Henry sich seiner Tat während der Vorstellung
des Cabarets in den „KonferenzenModerationen des Conférenciers Marc Henry im Künstlerkabarett Nachtlicht.“ gerühmt habe. Der Zeuge erklärt, daß Henry tatsächlich Anspielungen auf diese Affäre gemacht habe. Zeuge habe den
Eindruck gewonnen, daß Henry sich der
Tat rühmen wollte.
Zeuge Thurner, Besitzer des „Casino de
Paris“, gibt, über den Zustand des Henry an jenem Abend befragt, an, daß Henry
infolge Champagnergenusses etwas
angetrunken und gut gelaunt war. Zeuge gibt an, daß
etwa acht bis neun Flaschen Champagner an dem Tisch, an dem Henry mit noch vier
Personen saß, getrunken worden seien.
Besondere Roheit des
Angriffes.
Der Richter, Landesgerichtsrat v. Heidt, verurteilte den Angeklagten Henry wegen Uebertretung
der leichten Körperverletzung
und wegen
Ehrenbeleidigung zu einem Monat Arrests, die Angeklagte Delvard wegen Ehrenbeleidigung zu einer Geldstrafe von 300 Kronen.
Der Richter nahm unter anderem bei Henry als erschwerend die besondere Roheit des
Angriffes an. Beide
Verurteilte meldeten die Berufung an.
Monsieur Henry – kein
Franzose.
Es wurde sodann anschließend an die Verhandlung über die gegen
Karl Kraus von Mr. Henry erhobene Ehrenbeleidigungsklage eingegangen. Nach dem
Inhalt der Klage soll Kraus dem Maler Hollitzer gegenüber sich geäußert
haben, man könne mit Henry nicht verkehren, er sei kein Franzose, sondern ein polnischer Jude. Der Kläger erblickt hierin
eine Beschimpfung, weil ihm ein Schwindel mit seiner Nationalität vorgeworfen
werde.
Der Angeklagte Karl Kraus erklärte sich nicht schuldig; er gibt an, daß er zu der
fraglichen Zeit mit dem Maler Hollitzer und noch zwei Schriftstellern im Café
de l’Europe saß. Es kam die Sprache auf die Nationalität Henrys und dabei habe
er vielleicht gesagt, daß Henry, wie jemand erzählt habe, ein rumänischer Jude
sei. Eine beleidigende
Absicht habe er hiebei nicht gehabt
und insbesondere auch dem Maler Hollitzer nicht abgeraten,
mit Henry zu verkehren.
Zwei Zeugen, die damals der
Unterredung beiwohnten, die Schriftsteller Egon Friedell und Erich Mühsam, erklären, daß sie die
inkriminierte Aeußerung nicht
gehört haben und
bestätigen insbesonders, daß Karl Kraus sich nie über Henry in dem Sinne
geäußert hätte, als ob dieser unanständig wäre.
Zurückziehung der Klage.
Der Klagevertreter zog nun die Anklage gegen Kraus zurück, der sodann freigesprochen wurde.