Paris, 18.IV.1893.
Lieber Bruder,
darf ich Dich bitten, sobald es dir möglich ist, wieder
frs. 1000 zu
schickenSeit dem Verkauf von Schloss Lenzburg im März 1893 war Armin Wedekind erneut Ansprechpartner für die Auszahlung von Frank Wedekinds Erbteil. Den Rest seines Anteils aus dem Geldvermögen des Vaters hatte er zu Beginn des Paris-Aufenthalts erhalten., wenn möglich wieder in der Art wie das letzte Mal, indem mir das am
wenigsten Legitimationspapiere kostet. Ich denke, wenn möglich noch Ende dieses
Monats nach LondonWedekind reiste erst am 23.1.1894 nach London [vgl. Tb]. zu gehen, um ein halbes Jahr wenigstens dort zu bleiben.
Uebrigens bin ich davon abgesehen dem Trocknen so nahe wie möglich und wäre Dir
daher dankbar, wenn du die ExpedirungAbsendung, Beförderung. möglichst rasch erledigen könntest. Ueber
die Abrechnung bin ich so ziemlich durch Donald unterrichtet und möchte dich
daher, wenn Du momentan nicht Zeit fändest, durchaus nicht drängen, sie mir
mitzutheilen. Eventuell hätte das ja sogar bis zum Herbst Zeit; ich werde im
Herbst doch voraussichtlich wieder in Geschäften nach Zürich kommen. Wenn du
mir die 1000 Frs indessen möglichst
umgehend schicken könntest, wäre ich Dir wie gesagt sehr dankbar.
Am Freitagden 14.4.1893. Morgen um 10 Uhr war ich im Hotel New York. Frau Dr. Armin Wedekinds Schwiegermutter Elise Frey.war um 6 Uhr angekommen
und hatte sich zur Ruhe gelegt, kam indessen gleich herunter. Ich vermochte sie
dazu, sich von ihrer Gesellschaft zu trennen, und da sie vor der Hand keinen
Hunger spürte, geleitete ich sie im offenen Wagen durch die ganze Stadt, über
die hauptsächlichsten Boulevards, durch den Louvrehof, in die Elysäischen
Felderdie öffentliche Parkanlage Jardins des Champs-Élysées auf beiden Seiten der Avenue des Champs-Élysées zwischen dem Place de la Concorde und der Straßenkreuzung des Rond-Point des Champs-Élysées im 8. Arrondissement., bis wir gegen 12 vor
einem der besten Restaurants Diner Européen zum Frühstück abstiegen. Von dort
fuhren wir zu ihrem Hotel zurück, wo sich uns eine junge Damenicht identifiziert. ihrer
Reisegesellschaft zu einer zweiten Spazierfahrt anschloß. Ich sorgte dafür, daß
die Damen sämmtliche bemerkenswerthen Bauten wenigstens im Vorüberfahren zu
sehen bekamen. Bei Notre Dame stiegen wir aus und hielten uns wol eine halbe
Stunde in der Kirche auf. Dann hielten wir wieder vor dem Magasin du LouvreDie Grands Magasins du Louvre im Louvre Saint Honoré-Gebäude zwischen der Rue de Rivoli, dem Place du Palais-Royal und der Rue Saint-Honoré beherbergten eine Vielzahl von Geschäften., in
dem sich die Damen Handschuh kauften. Von dort gings in einem Strom von
Equipagen zum Arc de Triomphe hinaus. Meine Damen waren Paris gegenüber ein so
dankbares Publikum, wie ich es mir nur wünschen konnte. Die Champs Elysees
versetzten sie in ungeheuchelte Begeisterung. Da die junge Begleiterin durchaus
auf den Triumphbogen steigen wollte, begleitete ich sie, während Frau Dr. uns
im Wagen erwartete. Dann fuhren wir durch die Avenue de Neuillyzeitgenössisch die Allee vom Place de l’Étoile zum Pont de Neuilly (heute: Avenue Charles de Gaulle). und über die
großen Boulevards wieder zum Hotel zurück. Frau Dr. war ziemlich müde und legte
sich wieder nieder. Es hatte sich indessen herausgestellt, daß ein kleines
Mädchen, das von der Gesellschaft war, Helene Stapfer, an Diphtherie erkrankt
war. Man ließ den Arztnicht identifiziert. rufen, der ihr die Weiterreise untersagte. Ein schweizer
Herr, ein gewisser Herr Senn begleitete sie ins Spital. Ich versprach ihr, sie
besuchen zu wollen, und versprach Frau Dr., Herrn Dr. Frey darüber Mittheilung
machen zu wollen. Da übermorgen, Donnerstag, Besuchstag im Spital ist, werde
ich hingehen und meinem Versprechen gemäß an Herrn Dr. Frey schreiben. Wenn das
Kind wieder gesund geworden, wird sie sich einer nachfolgenden Gesellschaft
anschließen. Da sich auch Frau Dr. nicht besonders wohl fühlte, verabschiedete
sie mich mit der Bitte, noch einmal vorzusprechen. So ging ich denn zur Zeit
des Abendessens noch einmal ins Hotel. Da aber alles herzlich müde war und
niemand meiner Einladung, den Abend in einem Vergnügungslokal zuzubringen,
Folge leisten mochte und konnte, und da ich mich bei der allgemeinen Ermüdung
ziemlich überflüssig fühlte, so verabschiedete ich mich endgültig. Ich that,
was in meinen Kräften stand, Frau Dr. den Tag so angenehm wie möglich zu
machen; in Anbetracht ihrer Reisestrapazen hielt ich darauf, daß sie keinen
Schritt zu Fuß zu gehen hatte; und ich versichere Dich, daß mir das alles ein
großes Vergnügen war. Zu sprechen hatten wir die Hülle und die Fülle, zumal am
Vormittag so lange die zweite Dame nicht dabei war, die den Gesprächston
naturgemäß etwas abkühlte. Ueber Tisch war Frau Dr. so gerührt, daß ihr die
Thränen in den Augen standen.
Und nun leb für heute wohl; ich schreibe im Café und die Feder läßt
alles zu wünschen übrig. Mit den herzlichsten Grüßen an Emma und Dich Dein
treuer Bruder
Frank.