Lieber alter Freund!
Heute erst, nach drei Wochen komme ich dazu Deine lieben Zeilenvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 14.9.1905. zu beantworten.
Was mich bis jetzt davon abhielt war nicht Mangel an | Zeit, denn für Dich
hätte ich unter allen Umständen Zeit gefunden, sondern es war die fürchterliche
Aufregung in Erwartung und während meiner Berliner PremiereAm 26.9.1905 fand die Berliner Erstaufführung von „Hidalla“ am Kleinen Theater (Direktion: Victor Barnowsky) statt (Beginn: 20 Uhr); am 8.9.1905 war Wedekind in Berlin eingetroffen, am 9.9.1905 um 10 Uhr hatten die Proben für das Stück begonnen [vgl. Tb].. Jetzt ist die Geschichte überstanden und ich beginne
allmählig wieder aufzuathmen. Was nun das Gedicht zur Feier des TurnvereinsDer Kantonsschülerturnverein (KTV Aarau) beging vom 7.10 bis 9.10.1905 das 75. Jubiläum seines Bestehens. Oskar Schibler hatte Wedekind um einen kleinen Beitrag zum Fest gebeten [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 14.9.1905]. betrifft, so dank ich Dir herzlich daß Du meiner dabei gedacht hast,
aber versprechen möchte ich nichts, um Dich nicht schließlich in Verlegenheit
zu | bringen. Seit Jahren habe ich jährlich höchstens ein oder zwei Gedichte
produziert, auch das nur im Sommer bei großer Hitze und nur wenn mir das Wasser
irgend einer leidenschaftlichen Empfindung bis zum Mund stand. Seit ich hier in Berlinseit dem 8.9.1905 [vgl. Tb]. bin hat man |
schon zwei Prologenicht ermittelt. zu
Festlichkeiten von mir verlangt. Ich habe mich beide Male entschuldigen
müssen.
Ich danke Dir sehr für die Nachrichten die Du mir über unser
altes Liebes Aarau
schreibst. Als ich das letzte
Mal dortDer letzte nachgewiesene Aufenthalt Wedekinds im Aargau war im Sommer 1903. Am 14.7.1903 reiste er nach Lenzburg [vgl. Wedekind an Friedrich Rosenthal, 13.7.1903] und kehrte am 13. oder 14.9.1903 nach München zurück [vgl. Wedekind an Emilie Wedekind, 14.9.1903]. war, habe ich Dich | schmerzlich vermißt. Du sagst nun
freilich, ich hätte den Weg zu Dir schon finden können aber Du weißt nicht, wie
verhetzt ich damals durch eine
Arbeitvermutlich die verschollene Kabarettbearbeitung des in London spielenden 3. Aufzugs der „Büchse der Pandora“. Wedekind verfasste die heute verschollene Arbeit im August 1903 [vgl. KSA 3/II, S. 862]. war die bis zu einem bestimmten Termin fertig sein mußte. Ich
freue mich sehr darauf, Dich bei meinem nächsten Besuch in der Schweiz endlich |
nach so langen Jahren wiederzusehen, wenn Du nicht vorher einmal nach München kommen solltest.
Zwanzig Jahre sind seit unserer letzten BegegnungSicher nachzuweisen ist ein Treffen der Freunde in den Herbstferien 1885 auf Schloss Lenzburg [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, Lenzburg. 13.10.1885]. Möglicherweise gab es auch die von Oskar Schibler gewünschte Begegnung an Weihnachten 1888 [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 25.12.1888]. verflossen aber aus Deinen lieben Zeilen sehe
ich mit Freuden, daß Du jung geblieben bist. Willst Du den Herren vom | Turnverein
bei Gelegenheit Eures Festes meine herzlichsten Grüße zu/üb/ermitten/l/n.
Ebenso bitte ich Dich, mich Deinen lieben AngehörigenWedekind dürfte über die aktuellen Familienverhältnisse Oskar Schiblers nicht sicher informiert gewesen sein. Dieser war in einer ersten Ehe mit Hedwig Meister, in zweiter Ehe mit Dora Schmitz verheiratet. Die Ehen blieben kinderlos. Über die Ehefrauen sind keine Nachrichten ermittelt. zu empfehlen.
Also auf baldiges Wiedersehn! Si
fractus illu/a/batur
Orbis...Si fractus illabatur orbis, impavidum ferient ruinae. [Horaz, Oden, 3,3,7] (lat.) Wenn der Erdkreis krachend einstürzte, träfe er einen Furchtlosen.
Herzlichsten Gruß von Deinem alten Freunde
Frank Wedekind
Berlin,
30 September 1905