Lieber Herr Kraus,
hier ein kleiner Beitragdas dem Brief beigelegte Manuskript [vgl. KSA 1/II, S. 1385] des Gedichts „Die Wetterfahne“ [vgl. KSA 1/I, S. 560f.] als Beitrag für die „Fackel“, wo es knapp zwei Wochen darauf im Erstdruck erschien [vgl. Frank Wedekind: Die Wetterfahne. In: Die Fackel, Jg. 7, Nr. 197, 28.2.1906, S. 13]. Das Gedicht war Tilly Wedekinds Erinnerungen zufolge an sie „gerichtet“ [Wedekind 1969, S. 52], wahrscheinlicher aber war es im Gedanken an Berthe Marie Denk geschrieben, um die es im vorliegenden Brief geht, als „Wedekinds Abschiedsgedicht nach einem stürmischen Jahr der Leidenschaft“ [Pfäfflin/Dambacher 1999, S. 116].. Über den Prologdas „als Prolog zu einer Benefiz-Vorstellung des Kleinen Theaters“ (Direktion: Victor Barnowski) am 16.2.1906 in Berlin „zugunsten eines geplanten Heinrich-Heine-Denkmals“ zum „50. Todestag des Dichters“ [KSA 1/I, S. 969] in Versen geschriebene Gedicht „An Heinrich Heine“ [KSA 1/I, S. 555-560]. Seine Entstehung ist im Tagebuch dokumentiert. Wedekind notierte am 10.2.1906: „Im Kleinen Theater fordert mich Barnowski auf einen Heine-Prolog zu schreiben“ [Tb], am 11.2.1906: „Schließe mit Barnowski über Heine Prolog ab“ [Tb], am 12. und 13.2.1906: „Heineprolog geschrieben“ [Tb], am 14.2.1906: „Im Nürnberger Hof schreibe ich den Prolog fertig“ [Tb], am 15.2.1906: „Prolog abgeschrieben“ [Tb] und am 16.2.1906 schließlich den Vortrag des Gedichts und das Honorar: „Heine Prolog Eingenommen M. 300“ [Tb]. Den Tag darauf wurde es im „Berliner Tageblatt“ mit einer redaktionellen Vorbemerkung gedruckt: „Dieser Prolog wurde in der gestrigen, zu Gunsten eines Heine-Denkmals veranstalteten Vorstellung des Kleinen Theaters vom Verfasser vorgetragen.“ [Frank Wedekind: An Heinrich Heine. In: Berliner Tageblatt, Jg. 35, Nr. 87, 17.2.1906, Morgen-Ausgabe, S. (2-3), hier S. (2)]. habe ich Ihnen
telegraphiertHinweis auf ein nicht überliefertes Telegramm; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Karl Kraus, 14.2.1906. – Die „telegraphische Mitteilung“ betraf den Prolog „An Heinrich Heine“ (siehe oben); „worum es dabei ging, ist nicht mehr zu ermitteln.“ [KSA 1/I, S. 969] Karl Kraus äußerte sich kritisch über ein Heine-Denkmal: „Aber sollte die beschämende Denkmalsbettelei nicht doch einmal ihr Ende finden?“ [Um Heine. In: Die Fackel, Jg. 7, Nr. 199, 23.3.1906, S. 1-6, hier S. 1]. Unserer FreundinBerthe Marie Denk, die eine Liebesbeziehung mit Wedekind und eine mit Karl Kraus hatte. Sie hatte Wedekind in Berlin besucht, war am 14.1.1906 „sterbenskrank [...] nach Wien“ [Tb] zurückgereist und Wedekind hatte von ihrer Schwester zuletzt am 13.2.1906 Nachricht erhalten, sie sei „noch lange nicht gesund“ [Ottilie Weißhappel an Wedekind, 12.2.1906]. – Die Passage („Unserer Freundin“ bis „zuweilen?“) ist im Erstdruck durch drei Auslassungspunkte („...“) ersetzt. geht es offenbar immer noch nicht gut. Sehen
Sie sie zuweilen? Ich | sagte seinerzeit, daß das Weib und die Freundschaft
keine guten Freunde sind, aber gegenüber solchem Schicksal schweigt wol jeder
Eigennutz. Meine Rolle hierWedekinds Engagement in Inszenierungen seiner Stücke am Kleinen Theater (Direktion: Victor Barnowski) in Berlin schien beendet („Marquis von Keith“ mit Wedekind in der Titelrolle war nach der zwölften Vorstellung am 29.1.1905 [vgl. Tb] abgesetzt und „Hidalla“ mit Wedekind in der Rolle des Karl Hetmann nach der 50. Vorstellung am 23.1.1906 [vgl. Tb] nicht mehr gespielt worden) und ein Engagement am Deutschen Theater (Direktion: Max Reinhardt) war noch nicht definitiv. Wedekind notierte am 10.2.1906: „Im Deutschen Theater erfahr ich nichts Neues.“ [Tb] in Berlin scheint vorläufig ausgespielt zu sein,
ich habe mir aber | schon eine WohnungWedekind wohnte seinerzeit in der Pension von Johanna Nolte (Schiffbauerdamm 6/7) [vgl. Berliner Adreßbuch 1906, Teil I, S. 1598]; Eigentümer des Hauses war das Neue Theater [vgl. Berliner Adreßbuch 1906, Teil III, S. 669]. gemietet und weiß augenblicklich nicht
recht, wo ich zu Hause bin. Ich traf Harden hier öfterWedekind hatte Maximilian Harden in Berlin zuletzt am 4. und 26.1.1906 getroffen [vgl. Tb]. und habe ihm viel von
Ihnen erzählt. Vielleicht ist Ihnen das nicht rechtKarl Kraus war bereits auf Distanz zu Maximilian Harden gegangen, bevor er ab 1907 seine großangelegten Polemiken gegen den Berliner Publizisten schrieb; soeben hatte er ihn als „der fette Stilist Harden“ [Die Fackel, Jg. 7, Nr. 195, 10.2.1906, S. 21] bezeichnet., aber ich darf doch wol
meine Überzeugungen | aussprechen. Wenn es Ihnen nicht unsympatisch ist mir
etwas über Bertha Mariaim Erstdruck durch drei Auslassungspunkte („...“) ersetzt. zu schreiben, werde ich Ihnen dankbar dafür sein.
Mit herzlichsten Grüßen
Ihr
FrWedekind
15 II 6.
[Beilage:]
Die
Wetterfahne.
Du auf deinem höchsten Dach,
Ich in deiner Nähe;
Doch die wahre Liebe, ach,
Schwankt in solcher Höhe.
Du in deinem Herzen leer,
Ich in blindem Wahne –
Dreh dich hin, dreh dich her,
Schöne Wetterfahne!
_____
Unterhaltend pfeift der Wind,
Bläst uns um die Ohren;
Von des Himmels Freuden sind |
Keine noch verloren!
Glaubst du, daß verliebt ich bin,
Weil ich dich ermahne?
Dreh dich her, dreh dich hin,
Schöne Wetterfahne!
_____
Drehn wir uns auf hohem Turm
Immer frisch und munter!
Ach der erste Wintersturm
Schleudert dich hinunter.
Wenn dann auch verflogen wär,
Was ich jetzt noch ahne ...
Dreh dich hin, dreh dich her,
Schöne Wetterfahne!
Frank Wedekind.