Kennung: 4338

Berlin, 14. Dezember 1905 (Donnerstag), Bildpostkarte

Autor*in

  • Wedekind, Frank

Koautoren*in

  • Wedekind, Tilly

Adressat*in

  • Kraus, Karl

Inhalt

Eugen Steinert, Berlin W. 15
Weingroßhandlung
Kurfürstendamm 22.


Postkarte


An
Herrn Karl Kraus
in Wien
Wohnung (Straße und Hausnummer) Schwindtgasse 3. |


Gruß aus Steinerts Weinstuben Berlin W.

Kurfürstendamm 22.


Als ich nebenstehender Dame die prachtvolle Phantasie „Geldzu lesen gabden unter Pseudonym veröffentlichten Artikel „Geld“ [vgl. Lucianus: Geld. In: Die Fackel, Jg. 7, Nr. 190, 11.12.1905, S. 11-14], dessen Verfasser der mit Karl Kraus befreundete Journalist Karl Hauer war [vgl. Kraus 1920, S. 117]. entdeckte ich erst wie Sie mich gegen GoldmannPaul Goldmann, seinerzeit Korrespondent der Wiener „Neuen Freien Presse“ in Berlin, mit dem Wedekind bereits in Paris Umgang hatte [vgl. Wedekind an Otto Erich Hartleben, 15.9.1894], veröffentlichte eine umfangreiche abwertende Kritik über Wedekinds am Kleinen Theater in Berlin erfolgreich inszeniertes Schauspiel „Hidalla“ [vgl. Paul Goldmann: Berliner Theater. „Hidalla“ von Frank Wedekind. In: Neue Freie Presse, Nr. 14818, 22.11.1905, Morgenblatt, S. 1-4], „des eklen ‚Hidalla‘-Feuilletons“ [Die Fackel, Jg. 7, Nr. 190, 11.12.1905, S. 18], wie Karl Kraus die Besprechung nannte (siehe unten). Wedekind schrieb später über ihn das „Goldmannlied“ [KSA 3/III, S. 168f.], das zu Lebzeiten unveröffentlicht blieb [vgl. KSA 3/IV, S. 863-872]; das war am 22.12.1907: „Schreibe vormittags Goldmannlied.“ [Tb] in Schutz nehmenWedekind bezieht sich auf die im Anschluss an den Artikel „Geld“ (siehe oben) abgedruckte Glosse „Literat“ in der Rubrik „Antworten des Herausgebers“, in der Karl Kraus auf eine Zuschrift zu Paul Goldmanns Verriss von „Hidalla“ (siehe oben) und einer früheren Stellungnahme des Herausgebers der „Fackel“ zu diesem Kritiker antwortet – „Sie schreiben: ‚Gestatten Sie mir eine Äußerung herzlichen Dankes dafür, daß sich in Ihrem Blatt mit gebührender Promptheit die richtige Reaktion auf den neuesten Goldmann eingestellt hat. [...] Aber [...] wär’s nicht doch vielleicht angebracht gewesen, eine besondere Heldentat aus diesem Feuilleton über ‚Hidalla‘ besonders anzukreiden? Nämlich die Verdächtigung, daß die ‚Münchener Boheme‘, zu der auch Frank Wedekind gehöre, ein persönliches Interesse an dem sexuellen Verhalten der jungen Damen, daß egoistisches Verlangen nach dem Verzicht auf Jungfräulichkeit an dem Werk seinen Anteil habe ...‘ ‚Die Hauptsache ist‘, sagen Sie, ‚es scheint mir unertragbar, daß gegen unseren stärksten und wahrsten Dichter eine so unqualifizierbare Verunglimpfung, daß eine so plebejische Verdächtigung gegen die Reinheit seiner Motive ausgesprochen werden konnte. Da hofft man auf Sie!‘ Und man täuscht sich nicht, da ich Ihre Zuschrift selbst wiedergebe. Nur eins: Meine Ausräucherung des Klugschwätzers in Nr. 188 war [...] vor dem Erscheinen des eklen ‚Hidalla‘-Feuilletons geschrieben. In Nr. 189 konnte ich dann nicht mehr ausführlich werden, brauchte Herrn Goldmann bloß darüber aufzuklären, daß er den Fußtritt, den er soeben erst empfangen, als Vorschuß auf seine Gemeinheit gegen ‚Hidalla‘ auffassen könne. Man kann sich doch nicht überbieten [...]. Soll man diesem Herrn Goldmann einbläuen, daß nicht die Negation des Virginitätsideals, sondern viel eher das Virginitätsideal selbst von den Wünschen jener abzuleiten wär, die da entjungfern wollen? [...] Es ist wirklich das Zeichen einer vollkommen journalversauten Zeit, daß man sich mit einem Herrn Goldmann als kritischer Instanz auseinandersetzen muß“ [Die Fackel, Jg. 7, Nr. 190, 11.12.1905, S. 17f.] – und dann eine Passage eines kritischen Artikels über Paul Goldmann aus der Berliner „Schaubühne“ [vgl. Otto Tugenthat: Berliner Theaterkritiker. VIII. Paul Goldmann. In: Die Schaubühne, Jg. 1, Nr. 13, 30.11.1905, S. 362-365, hier S. 364f.] als „eine ganz zutreffende Charakteristik“ zitiert und knapp kommentiert [vgl. Die Fackel, Jg. 7, Nr. 190, 11.12.1905, S. 18f.].. Herzliche Grüße
F.W.


[am rechten Rand um 90 Grad gedreht:]

Bitte ich, nicht nebenstehender Herr, habe den Artikeldie Wedekind gegen Paul Goldmann verteidigende Glosse „Literat“ in der Rubrik „Antworten des Herausgebers“ in der „Fackel“ vom 11.12.1905 (siehe oben). entdeckt! Herzl. Gruß
Tilly Newes


Grüßen Sie EgonEgon Friedell, der in der Wiener Inszenierung der „Büchse der Pandora“ am 29.5.1905 und 15.6.1905 die Rolle des Polizeikommisärs gespielt hat (Tilly Newes die Lulu). von mir!

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 1 Blatt, davon 2 Seiten beschrieben

Schrift:
Kurrent. Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Bleistift.
Schriftträger:
Papier. 9 x 14 cm. Mit Textaufdruck.
Schreibraum:
Im Hoch- und Querformat beschrieben.
Sonstiges:
Die Bildseite zeigt eine ornamental verzierte fotografische Innenansicht der im Textaufdruck (hier wiedergegeben) beschriebenen Weinstube. Die Adressseite enthält neben dem Textaufdruck zur Weinstube (hier ebenfalls wiedergegeben) einen aufgedruckten Herstellernachweis („Berl. Ill. Ges. S.W. 12.“) sowie vor der Angabe zum Empfangsort einen Postzustellvermerk („IV,“) von fremder Hand. Die Bildpostkarte ist mit einer aufgeklebten Briefmarke von 5 Pfennig frankiert. Karl Kraus hat oben rechts auf die Bildseite mit Bleistift das Datum „16.XII.05“ notiert.

Datum, Schreibort und Zustellweg

Der 14.12.1905 ist als Ankerdatum gesetzt – das wahrscheinliche Schreibdatum der in der Weinstube Eugen Steinert verfassten Bildpostkarte. Wedekind notierte am 14.12.1905: „Abends [...] bei Steinert“ [Tb], während er am 15.12.1905 festhielt: „Ich bleibe Abends zu Haus“ [Tb]. Am 15.12.1905 war die dann weitergeleitete Bildpostkarte bereits in Wien zwischengestempelt; laut Posteingangsstempel Wien traf sie am 16.12.1905 beim Empfänger ein.

Uhrzeit im Postausgangsstempel Berlin (Tagesdatum nicht sicher zu entziffern): „3 – 4 N“ (= 15 bis 16 Uhr). Uhrzeit im Zwischenstempel Wien: „5“ (= 17 Uhr). Uhrzeit im Posteingangsstempel Wien: „8. V“ (= 8 Uhr).

Erstdruck

Briefe Frank Wedekinds

Titel des Aufsatzes:
Briefe Frank Wedekinds
Autor:
Frank Wedekind
Herausgeber:
Karl Kraus
Verlag:
Wien: Verlag "Die Fackel"
Jahrgang:
1920
Seitenangabe:
117-118
Kommentar:
Detaillierter Nachweis: Briefe Frank Wedekinds. In: Die Fackel, Jg. 21, Nr. 521-530, Januar 1920, S. 117-118. Die im Erstdruck um den Text von Tilly Newes gekürzt wiedergegebene Postkarte ist mit dem Hinweis „Berlin, 15.12.05“ sowie mit zwei Fußnoten versehen. Nach „‚Geld‘ zu lesen gab“ ist angemerkt: „Eine Arbeit des nun auch verstorbenen, wahrlich dahingeschwundenen Karl Hauer, des langjährigen Mitarbeiters der Fackel und Autors des Buchs ‚Von den fröhlichen und unfröhlichen Menschen‘, der das Herz hatte, zu jenen, und das Schicksal, zu diesen zu gehören. Denn was gilt der Mensch in der Literatur neben den Faiseuren der ‚Kunst sich zu freuen‘! Er lebt bis zu dem Grad einer gerechten Verbitterung, an dem auch die Hilfe versagt. Für seine dürftige Körperlichkeit hatte diese drangvolle Erde nicht Raum und für seine reiche Geistigkeit so wenig Zeit, daß in einem Literaturbezirk, in dem der flachste Optimismus noch heute seinen sogenannten Mann nährt und die Schwindler jenen Hochflug nehmen, den dem Mann die Last einer geistigen Ehre verwehrt, sein Tod so wenig Beachtung wie sein Leben gefunden hat. Aber die schuftigen Zeitungen, die beim Sterben der Millionen nicht abließen, die Personalnachrichten ihrer Lieben zu besorgen, haben dadurch, daß sie von Karl Hauers Tod nicht ‚Notiz nahmen‘ ‒ selbst ihre eigenste Gabe ist ein Nehmen ‒, haben dadurch, daß sie, anstatt seinen Namen wenigstens jetzt durch ihre Aufmerksamkeit zu besudeln, ihm zum Grabe die Fackel nachtrugen, ihm die letzte, die erste Ehre erwiesen. Trotzdem ‒ denn Trotz ist die Haltung des Echten ‚dem‘ gegenüber ‒ werden seine Schriften gelesen werden, wenn jene Gelegenheit aller Gönner- und Könnerschaften, auf- und zugetan den Tagdieben des Geistes, wenn jene ‚Jetztzeit‘, die schon ein rabiaterer Hauer verflucht hat, dahin sein wird.“ Nach „Goldmann“ ist angemerkt: „Dieser Schwarzalbe, der kürzlich ‚Schloß Wetterstein‘ für ein Werk aus dem Nachlaß Wedekinds erklärt hat, ‚verreißt‘ ihn noch jetzt wie einen Anfänger. Das deutsche Publikum aber, dessen Instinkte von solchem Willen beraten werden oder das auch nur, soweit es alldeutsch gesinnt ist, die Überzeugung hat, daß Wedekind ein Jude war, wirft Stinkbomben auf die Bühne, wenn er gespielt wird.“ – Neuedition: Nottscheid 2008, S. 54 (Nr. 41).
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Wienbibliothek im Rathaus

Felderstraße 1
1082 Wien
Österreich

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Karl-Kraus-Archiv
Signatur des Dokuments:
H.I.N. 139729
Standort:
Wienbibliothek im Rathaus (Wien)

Danksagung

Wir danken der Wienbibliothek im Rathaus für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstückes.

Zitierempfehlung

Frank Wedekind, Tilly Wedekind an Karl Kraus, 14.12.1905. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (23.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

12.04.2023 10:00