Mein
lieber Franklin!
Endlich das erste LebenszeichenWedekinds Antwort auf 2 Briefe des Freundes [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 4.2.1885]., D/d/as ich Dir mit Gewalt abzwingen musste. Ja es
ist wahr, trotzdem es in Hinblick auf unser früher so inniges Verhältniss
höchst eigenthümlich klingt wenn Du sagstOskar Schibler zitiert im Folgenden aus Wedekinds Brief vom 4.2.1885 aus München.: [„]Wir sind uns eben allerdings ein wenig aus dem Auge gekomenOskar Schiblers Schreibweise, statt: gekommen. ....“ Es ist auch die
natürliche Folge des fröhlichen Studentenlebens, in dessem Strudel so bald ein Eindruck dem andern
Platz macht & einem so kaum Zeit lässt in alten Erinnerungen sich zu
ergehen. Doch wenn dann Augenblicke der Ruhe eintreten so öffnet man gerne
diesen reizenden mit jugendlicher Frische & Phantasie ausgeschmückten
Bildern das Thor & tritt dann selbst wieder ein in die vergangene
Mährchenwelt der Jugendzeit. Wie ich aus Deinem Briefe | sehe, so bist auch Du,
der von Dir früher so verspotteten & mit philosophischer Verachtung
angesehenen Liebe anheim gefallenWedekinds erotisches Verhältnis zu Bertha Jahn. – Oskar Schibler dürfte hier insbesondere an seine Affäre mit „Frau von B.“ im Herbst und Winter 1882/83 gedacht haben, auf die Wedekind mit Unverständnis reagierte und die zu einer ernsthaften Krise in der Freundschaft geführt hatte [vgl. u. a. Oskar Schibler an Wedekind, 31.1.1883].
& träumst Dich in Deinen süssen Fesseln in ein Paradies hinein. Ich habe
dies selbst erfahren, dies Gefühl lernt Einen erst recht einen Blick in das
eigene Innere werfen, es ist gleichsam der Schlüssel zu ungeahnten Reichen, die sich dem entzückten Herzen
eröffnen. Doch wie lange dauert die Herrlichkeit, bis man einsieht, dass der
Gegenstand seiner Verehrung nach & nach den Reiz der Neuheit verliert &
die längere Umgangszeit sie/ihn/ immer mehr der Reize entkleidet, die man an
ihm mit Liebesaugen gesehen. So habe ich in letzter Zeit mehrfach Gelegenheit
gehabt mich zu begeistern, aber so bald als ich merkte, dass mein Gefühl
erwiedert wurde hat meine Empfindung nachgelassen & ist erloschen; es ist so süss zu scherzen mit LiedernOskar Schibler zitiert die ersten beiden Verse („es ist so süss zu scherzen / mit Liedern u mit Herzen“) aus Emanuel Geibels Gedicht „Hidalgo“ (1840). & mit Herzen
– wenn nur nicht die Mädchen gleich immer ans Brautbett denken würden &
doch geht dann erst die schöne Vertraulichkeit | an. Sonntag vor 8 Tagenam 1.2.1885. war ich in Halle ganz allein. Aber
leider hatte ich nicht die richtige Brille angezogen & so konnte ich nicht
so recht zum GenusOskar Schiblers Schreibweise, statt: Genuss.
gelangen. Im Sommer musOskar Schiblers Schreibweise, statt: muss.
es reizend sein an der
Saale hellem StrandeErster Vers des Volks- und Studentenlieds „An der Saale hellem Strande“, das von Franz Kugler 1826 gedichtet wurde.,
aber jetzt sah die ganze Natur noch höchst verschlaffenSchreibversehen, statt: verschlafen. aus & das Negligee das sie noch
anhatte war nicht gerade zu niedlich. Im Krug zum grünen KranzeErster Vers und Nebentitel des Volks- und Studentenlieds „Brüderschaft“, das von Wilhelm Müller 1821 gedichtet und von Franz Kugler 1833 (in der berühmt gewordenen Melodie) vertonte. war ich auch – aber
welche Enttäuschung. Anstatt ein gemüthliches, altes aus Holz gebautes Häuschen
zu finden, über dessen schwere eichene Tische von
die vo durch das Fenster im Winde gewiegten Äste ihre Schatten spielen
liessen & wo man hinausschauend die Saale vorbeirauschen sah, so fand ich
ein höchst kaltes abstossendes modernes
RestaurantDas aus dem 18. Jahrhundert stammende Gasthaus „Im Krug zum grünen Kranze“ (Talstraße 37) mit Blick auf die Saale besitzt hohe hallenartige Räumlichkeiten mit Gewölbedecken.. Nicht immer passt der Entstehungsort zum Produkt.
Letzten Samstag den 7.2.1885.machte
ich einen RittZu Pferd ist Lützen von Leipzig etwa 21 Kilometern entfernt. nach Lützen & habe mit
eigenen Augen Den PlatzIm 30-jährigen Krieg am 16.11.1632 (am 6.11.1632 nach dem gregorianischen Kalender) fiel der mit dem protestantischen Brandenburg und Sachsen verbündete Gustav II. Adolph König von Schweden in der Schlacht bei Lützen gegen Wallensteins Truppen. Ein Granitfindling wurde in den 1630er Jahren an die Stelle (bzw. in die Nähe), wo der schwedische König tot aufgefunden worden war, gewälzt. 1837 wurde der ‚Schwedenstein‘ mit einem gotischen Denkmal aus Gußeisen überbaut, das von Friedrich Schinkel angefertigt worden war [vgl. Alfred Schmekel: Historisch-topographische Beschreibung des Hochstiftes Merseburg. Ein Beitrag zur Deutschen Vaterlandskunde, Halle 1858, S. 269; Gustav-Adolf-Gedenkstätte in: http://www.museumluetzen.de/seite/346921/gustav-adolf-gedenkst%C3%A4tte.html, eingesehen 3.4.2023].
gemustert auf dem der Schwedenkönig
gefallen. Ein echt langweiliges unaesthtischesSchreibversehen, statt: unaesthetisches. Theologendenkmal bezeichnet die
Stelle, ein einfacher Stein neben dem er die Seele aushauchte | hätten mehr
Gedanken & Gefühle angeregt als dies Steife mit sinnlosen BibelsprüchenAuf der Kopfseite des Denkmals stand in Goldprägung der Satz: „Hier fiel Gustav Adolph den 6. Nov. 1632“. Auf den übrigen 3 Seiten befanden sich die Bibelsprüche: 1. „Er führte des Herrn Kriege, 1. Sam. 25, 28“ (Osten) – 2. „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Zucht. 2. Tim. 1, 7“ (Süden) – 3. „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. 1. Joh. 5, 4“ [Alfred Schmekel: Historisch-topographische Beschreibung des Hochstiftes Merseburg. Ein Beitrag zur Deutschen Vaterlandskunde, Halle 1858, S. 271]. verunzierte & dem
noch sinnloseren Kreuzeszeichen gekrönte 4eckige eiserne Gestell. Wo die
Theologen hinkommen da hört die Vernunft & die Aesthetik auf. Ich habe
bereits von beiden Fahrten 12seitige Briefe geschrieben u so bin ich nicht mehr disponirt weitere Ausführungen beizusetzen.
Hoffentlich erfreust Du mich bald mit einer Schilderung Deiner Lebensweise,
denn dass Du ganz nur in Liebesgefühlen schwelgst will mir nicht recht in den Kopf. Gehst Du während der FerienWedekind reiste in den Semesterferien, die in München – vermutlich um den 20.2.1885 begannen und – bis zum 15.4.1885 dauerten, nicht nach Hause [vgl. Verzeichnis der Vorlesungen an der Königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Sommer-Semester 1885, S. (2)]. In Leipzig endete das Wintersemester 1884/85 am 14.3.1885 [vgl. Verzeichniss der im Winter-Halbjahre 1884/85 auf der Universität Leipzig zu haltenden Vorlesungen (Der Anfang der Vorlesungen ist auf den 15. October, der Schluss auf den 14. März festgesetzt.), Leipzig (1884)]. nach Hause & wann? Ich gedenke über Eger, Regensburg Augsburg meine RouteDie gewählte Route war mit etwa 700 Kilometern etwas länger als der direkte Weg (680 Kilometer). – Möglicherweise wählte Oskar Schibler diesen Heimweg aus, um weitere Schauplätze des Dreissigjährigen Kriegs zu besichtigen, wie etwa den Marktplatz von Eger, wo Albert von Wallenstein am 25.2.1634 ermordet wurde. zu nehmen. Ich
erwarte noch vor Beginn der Ferien die Antwort, die Du senden musst um Deine
frühere Nachlässigkeit wieder gut zu machen.
Leb wohl & grüss mir auch Deinen BruderArmin Wedekind, der in München Medizin studierte und mit Frank Wedekind in der Türkenstraße 30 im 1. Stock wohnte [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1884/85. München 1885, S. 78]. Dein O.
Leipzig 10.II 85.