Lieber Herr Kraus!
Herzlichen Dank für die beiden Karten aus dem Café Reclameim Erstdruck: Karten. – Wedekind bezieht sich auf zwei Bildpostkarten [vgl. Karl Kraus, Carl Ferdinand Hollitzer an Wedekind, 19.6.1905; Karl Kraus, Alois Kohn (Ungrad), Fräulein Hansi, Erich Schuch, Eleonore an Wedekind, 21.6.1905], die im Café Reklame (Wien II, Taborstraße 1) [vgl. Lehmanns Allgemeiner Wohnungsanzeiger für Wien 1905, Teil IV, S. 1048] geschrieben waren. Wedekind selbst hat das Café Reklame nach der zweiten Vorstellung seiner Tragödie „Die Büchse der Pandora“ am 15.6.1905 zusammen mit Alexander Rottmann (Darsteller des Rodrigo Quast) und Carl Leopold Hollitzer (siehe unten) besucht: „Rottmann Hollitzer und ich gehen ins Café Reclame.“ [Tb].
Den Totentanz werden Sie erhalten habenWedekind hatte das Manuskript von „Totentanz“ (verschollen) am 20.6.1905 nach Wien gesandt: „Totentanz [...] an Kraus geschickt.“ [Tb] Es war für den Abdruck in der „Fackel“ (siehe unten) spätestens am 24.6.1905 bereits gesetzt [vgl. Karl Kraus an Wedekind, 24.6.1905].. Wenn er Ihnen für die „Fackel“ zusagt,
so möchte ich Sie bitten, eine kleine KorrekturWedekinds Korrekturwunsch wurde „nicht mehr berücksichtigt.“ [KSA 6, S. 617] Im Erstdruck seines Einakters lautet die Stelle: „Casti Piani. Ihre Worte treffen die Todeswunde, die ich mit auf die Welt gebracht habe und an der ich voraussichtlich einmal sterben werde. (Er wirft sich in einen Sessel). – – Ich bin – – – Idealist!“ [Frank Wedekind: Totentanz. Drei Szenen. In: Die Fackel, Jg. 7, Nr. 183/184, 4.7.1905, S. 1-33, hier S. 12] Karl Kraus bemerkte dazu später (anlässlich einer Vorlesung von „Totentanz“ nach einem Auszug aus dem vorliegenden Brief): „Das Werk war inzwischen gedruckt worden und die Korrektur jener Stelle ist vermutlich weil sie zu spät eintraf unterblieben; der Herausgeber erinnert sich nicht und könnte sich nicht vorstellen, daß er sie dem Dichter widerraten habe.“ [Die Fackel, Jg. 27, Nr. 706-711, Dezember 1925, S. 89] In der ersten Buchausgabe von Totentanz“ (1905) im Albert Langen Verlag (und allen weiteren Ausgaben) ist die Stelle korrigiert; das letzte Wort lautet hier: „Moralist!“ [KSA 6, S. 111] vorzunehmen: |
Zwischen Seite 30 und 37 des Manuscriptes findet sich der
Passus:
Casti Piani Ihre Worte treffen die Todeswunde e. ct.
(er wirft sich in einen Sessel) – – Ich bin – – – Idealist!
Ich halte es für richtiger, s statt „Idealist“
„Moralist“ zu setzen. Wenn Sie meine Ansicht theilen, bitte ich Sie,
dementsprechend zu korrigieren.
Ich denke noch immer mit Entzücken der letzten herrlichen | drei
Tage in WienWedekind war vom 14. bis 16.6.1905 in Wien [vgl. Tb]: „Zur zweiten Aufführung der ‚Büchse der Pandora‘“ [Kraus 1920, S. 116] am 15.6.1905.. Man muß sich an alles zuerst gewöhnen, besonders an die
Annehmlichkeiten des Lebens. Sie zeichnen sich als solche erst in der
Erinnerung aus und dadurch daß einem die Alltäglichkeit verleidet wird.
Grüßen Sie bitte alle die lieben Menschen wenn Sie Ihnen begegnen
und besonders Herrn Hollitzerim Erstdruck durch vier Auslassungspunkte („....“) ersetzt. – Carl Ferdinand Hollitzer, der Maler des Lulu-Porträts als Pierrot für die Wiener „Büchse der Pandora“-Inszenierung, hatte Wedekind auf einer der erwähnten Bildpostkarten (siehe oben) Grüße gesandt..
Sollte Totentanz für die | Fackel zu lang sein, so werde ich
Ihnen eine Ablehnung durchaus nicht verargen.
Mit der Versicherung aufrichtigen Dankes und herzlichen
Grüßen
Ihr
Frank Wedekind.
München 23. Juni 1905.
[Kuvert:]
Herrn
Karl Kraus
Wien IV.
Schwindgasse 3.