Lieber Herr Kraus!
ich sage Ihnen meinen aufrichtigen herzlichen Dank für das
schöne GeschenkWedekind notierte am 7.5.1905: „Karl Kraus schickt mir das Bild von Annie Kalmar.“ [Tb] Das Foto von Annie Kalmar (siehe unten) war Wedekind offenbar versprochen worden, nachdem Karl Kraus ihm am 27.3.1905 in Nürnberg zahlreiche Fotografien der Schauspielerin gezeigt hatte: „Karl Kraus zeigt mir fünfzig Bilder von Annie Kalmar.“ [Tb], das Sie mir mit dem Bilde von Annie KalmarIn Wedekinds Nachlass ist die übersandte Fotografie nicht überliefert, so dass unklar bleibt, um welches Bild es sich handelte. Karl Kraus, der die Schauspielerin Annie Kalmar 1899 in Wien kennenlernte, sich „Hals über Kopf“ [Pfäfflin/Dambacher 1999, S. 72] in sie verliebte, sie in der „Fackel“ rühmte [vgl. Pfäfflin/Dambacher 2001, passim], ihr 1900 ein Engagement am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg vermittelte, wo sie, schwer krank, am 2.5.1901 starb [vgl. Fischer 2020, S. 149-156, 1043], trieb einen „Kult um die Tote“ [Wagner 1987, S. 97], ließ ihr ein Grabdenkmal „aus dem Marmor“ [Pfäfflin/Dambacher 2001, S. 5] meißeln, veranlasste 1903 ihre Umbettung von Hamburg nach Wien, war im Besitz von zahlreichen Fotos von ihr, die er am 27.3.1905 Wedekind zeigte – „Karl Kraus zeigt mir fünfzig Bilder von Annie Kalmar“ [Tb] – und veröffentlichte eines davon zum 30. Todestag zusammen mit seinem Gedicht „Annie Kalmar“ in der „Fackel“ [vgl. Die Fackel, Jg. 33, Nr. 852-856, Mitte Mai 1931, S. 49]; zahlreiche Fotoporträts sowie ein zweites Exemplar der als Grabdenkmal geschaffenen Büste von ihr fanden sich nach seinem Tod (fotografisch dokumentiert) in Wohn- und Arbeitszimmer, Bibliothek und Schlafzimmer seiner Wohnung [vgl. Pfäfflin/Dambacher 1999, S. 22-31].
machen. Ich vermisse nur Ihre Widmung am Fuß des Bildes | die Sie jedenfalls
nicht verweigern werden sobald Sie wieder in München sind.
Morgender 10.5.1905, an dem Wedekind seine Abreise nach Berlin um 22.10 Uhr notierte: „Packe meinen Koffer 10.10 nach Berlin“ [Tb]. fahre ich zur GerichtsverhandlungDer erste Prozess gegen Wedekind und seinen Verleger Bruno Cassirer, die des Vergehens gegen §184 (‚Verbreitung unzüchtiger Schriften‘) in der Buchausgabe „Die Büchse der Pandora. Tragödie in drei Aufzügen“ (1903) angeklagt waren, fand am 12.5.1905 vor dem Landgericht I in Berlin statt und endete mit einem Freispruch [vgl. KSA 3/II, S. 1153-1161], wie Wedekind notierte: „Gerichtsverhandlung in Berlin. Fahre um 9 Uhr ins Gerichtsgebäude in Moabit. [...] Verhandlung Freisprechung.“ [Tb] Die Staatsanwaltschaft des Reichsgerichts in Leipzig ging dagegen am 25.10.1905 in Revision und es kam am 10.1.1906 zum zweiten Prozess vor dem Landgericht II in Berlin [vgl. KSA 3/II, S. 1161-1181]. wegen B d. P nach
Berlin. In Ihrem letzten Telegrammnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Karl Kraus an Wedekind, 29.4.1905. waren Sie so liebenswürdig mich über G.L.
zu fragenKarl Kraus hatte Wedekind in einem nicht überlieferten Telegramm (siehe oben) offenbar gefragt, ob Grete Lorma, die bei der Uraufführung von „So ist das Leben“ am 22.2.1902 in München die Rolle der Prinzessin Alma gespielt hatte (siehe unten), als Darstellerin der Lulu in der Wiener Premiere der „Büchse der Pandora“ am 29.5.1905 in Betracht komme. „Bis zum letzten Moment war unklar, wer die Rolle der Lulu [...] übernehmen würde.“ [Nottscheid 2008, S. 139] Grete Lorma war Schauspielerin am Raimund-Theater in Wien [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 602], ab Ende 1905 am Wiener Bürgertheater [vgl. Neuer Theater-Almanach 1906, S. 589]. Die Rolle der Lulu in der von Karl Kraus veranstalteten Wiener Inszenierung wurde dann kurzfristig mit Tilly Newes besetzt.. Nun muß man Ihnen darüber | in Wien ja eigentlich besser Auskunft
geben können, denn ich habe die Dame schließlich nur sehr selten auf der BühneGrete Lorma (siehe oben) hatte in der Uraufführung von „So ist das Leben“ (Regie: Georg Stollberg) am 22.2.1902 im Münchner Schauspielhaus [vgl. KSA 4, S. 632, 635-637] die Rolle der Prinzessin Alma gespielt [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 55, Nr. 90, 22.2.1902, General-Anzeiger, S. 1] und nur mäßige Kritiken bekommen (Wedekind selbst stand in einer Nebenrolle auf der Bühne): „Den Exkönig gab Herr Weigert [...], nur erschien und sprach er zu jugendlich, so daß man an die erwachsene Tochter nicht recht glauben konnte. Diese Tochter gab Fräulein Lorma ganz hübsch, aber noch erheblich farbloser, als die Gestalt schon dem Dichter gerathen ist“ [Hanns von Gumppenberg: Münchner Schauspielhaus. Zum ersten Male: So ist das Leben. Schauspiel in fünf Akten von Frank Wedekind. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 55, Nr. 93, 25.2.1902, Vorabendblatt, S. 1-2]. „Grete Lorma jammerte die Königstochter Alma ganz passabel.“ [Münchener Ratsch-Kathl, Jg. 14, Nr. 17, 26.2.1905, S. (6)] Das Stück wurde rasch abgesetzt. Nach der Uraufführung fanden nur vier weitere Vorstellungen statt (am 23.2.1902, 3.3.1902, 8.3.1902 und 11.3.1902).
gesehen und das sind jetzt schon vier oder fünf Jahre her. In dieser Zeit kann
man ja allerhand lernen.
Übrigens habe ich in Stuttgart neulich die BekanntschaftWedekind hat am 15.4.1905 in Stuttgart Berthe Marie Denk kennengelernt, die im selben Hotel wie er logierte und mit ihm brieflich unter Hinweis auf ihre Lektüre der „Büchse der Pandora“ Kontakt aufnahm [vgl. Berthe Marie Denk an Wedekind, 14.4.1905]; sie trafen sich [vgl. Tb] – der Beginn einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung.
einer entzückenden | Wienerin gemacht, von der ich Ihnen bei unserer/m/
nächsten Zusammentreffen allerhand zu erzählen haben werde. Sie hat sich auch
mit dem Problem Lulu beschäftigtEs ging um die bis zuletzt unklare Besetzung der Lulu in der Wiener Premiere (siehe oben). Wedekind „liebäugelte“ [Fischer 2020, S. 128] mit Berthe Marie Denk für diese Rolle. Er hatte allerdings soeben einen Brief von Berthe Marie Denk mit ihrer Erklärung zur Darstellung der Lulu in „Die Büchse der Pandora“ erhalten – mit dem Hinweis, ihr nicht Karl Kraus zu schicken [vgl. Berthe Marie Denk an Wedekind, 8.5.1905], der „etwa 1902 zu ihr in engere Beziehung getreten“ war, „was Wedekind nicht wusste“ [Fischer 2020, S. 128]., gesteht aber selber der Rolle, auf der Bühne
wenigstens, nicht gewachsen zu sein.
Ich freue mich sehr darauf, Sie bald wiederzusehenWedekind hat Karl Kraus dem Tagebuch zufolge nachweislich zuletzt in Nürnberg getroffen – am 26.3.1905 („Karl Kraus kommt von Wien“) und 27.3.1905 („Karl Kraus zeigt mir fünfzig Bilder von Annie Kalmar“). Ein Besuch von Karl Kraus in München ab dem 1.5.1905 [vgl. Karl Kraus an Wedekind, 28.4.1905] ist nicht belegt..
Nochmals tausend Dank
Mit herzlichen Grüßen
Ihr
FrWedekind.
9.V.5.