Paris, 4.I.1892.
Lieber Bruder,
verzeih, daß ich dir schon wieder schreibe, zumal wenn Du
die AngelegenheitWedekind erwartete die Zusendung von Wertpapieren aus dem Erbe seines Vaters, durch deren Verkauf er seinen Parisaufenthalt finanzieren wollte [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 26.12.1891]. vielleicht schon besorgt hast. Von denFrs 150Zur kurzfristigen Überbrückung von Frank Wedekinds Geldnöten hatte sein Bruder ihm zum Jahreswechsel offenbar diese Summe zukommen lassen und parallel dazu das unten genannte Telegramm verschickt [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 31.12.1891]. mußte ich 50 dem
Schneidernicht identifiziert. Frank Wedekind hatte unmittelbar nach Erhalt des Geldes einen Anzug in Auftrag gegeben [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 1.1.1892]. geben und 45 an Miethe zahlen – bleiben 55, davon hab ich noch 7. Ich
bin nun acht Tage hierWedekind war am 29.12.1891 gegen 8 Uhr morgens in Paris angekommen. und hätte sicher geglaubt, daß sich die Absendung des
Geldes in den ersten acht Tagen effectuiren ließ. Ich erwarte täglich eine
EinladungDie Schweizer Journalistin Emilie Hüni lebte seit 1881 in Paris und berichtete von dort unter anderem regelmäßig für die „Neue Zürcher Zeitung“. Frank Wedekind hatte sie bereits an seinem Ankunftstag in Paris aufgesucht [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 1.1.1892]. von Frl. Hüny, müßte sie aber wahrscheinlich durch nicht Erscheinen vor den
Kopf stoßen, da ich in meinem täglichen Anzug nicht gehen kann und mir der neue
nicht zur Verfügung steht, solange ich ihn nicht ganz bezahlt. Noch schlimmer
sieht es mit meinem Schuhwerk aus. Ich laufe thatsächlich auf bloßen Socken in
Paris herum. Die ersten Abende brachte ich selbstverständlich im TheaterFrank Wedekind besuchte Vorstellungen im Théâtre du Châtelet (30.12.1891), im Cirque d’Hiver (31.12.1891) und im Théâtre de l’Odéon (1.1.1892) [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 1.1.1892]. zu, da
ich zu Haus noch nicht eingerichtet war. Nun ist das Geld fort und ich kann
mich nicht einrichten. Es sind jetzt volle drei Monat, daß ich um dieses Geldes
willen in der verzweifelten Situation zwischen Thür und AngelZusammenhang unklar. schwebe, ohne
einen Fleck zu haben, wo ich mich annähernd zu Hause fühle und in Ruhe arbeiten
konnte.
Ich bitte dich inständig, mich um jeden Preis aus dieser
Tantaluslagein Anlehnung an die Figur des Tantalos in der griechischen Mythologie bildlich für eine besonders quälende Situation. „In der Unterwelt büßt er nach Homer durch ungestillten Hunger und Durst: bis zum Kinn steht er in Wasser, die schönsten Früchte hängen ihm vor den Augen; will er aber essen oder trinken, so weichen Früchte und Wasser zurück. Bei Pindar, andern Lyrikern und den Tragikern quält ihn ein über seinem Haupte hängender, stets den Sturz drohender Felsblock.“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 19. Leipzig 1909, S. 313f.] endlich zu erlösen. Ich hatte mich so darauf gefreut, daß das
unstete ungewisse Treiben hier ein Ende nehmen werde, und schwebe nun
thatsächlich an einem Faden in der Luft als ein Mensch, der des nächsten Tages
nicht sicher ist. Wenn es nicht Mangel an Zeit war, wüßte ich nicht, was dich
hätte hindern können, zugleich mit Abschickung des Telegrammesdas Begleitschreiben zu einer Geldsendung [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 31.12.1891]. oder Tags darauf
wenigstens die Papiere zu expedirenabzusenden.. Verzeih mir wenn ich mich ereifere, aber
ich bin des ruhelosen Umherirrens so furchtbar müde, daß ich am liebsten den
ganzen Tag im Bett bleiben möchte. Gestern habe ich schon sparenshalber nicht
zu Mittag gegessen, kam dann Abends halb ohnmächtig ins Café und zerschlug ein
Glas. Also bitte schick mir das Geld oder wenigstens eine größere Summe, aber
gleich. Ich weiß effectivhier für: wirklich. nicht, wie ich über morgen mein Essen bezahlen soll,
wenn es mir meine Schuhe überhaupt noch ermöglichen auszugehen. Und dabei sehne
ich mich furchtbar nach Ruhe und Arbeit.
Entschuldige auch, wenn ich Dir irgendwie Unrecht thue. Ich
bin der Letzte, der die Mühe, die Du um unsertwillen hast, unterschätzt.
Mit den herzlichsten Grüßen an Dich und Emma und bestem Dank
im voraus Dein treuer Bruder
Franklin.