DR. Med.
A. Wedekind
Riesbach-ZÜRICH.
Riesbach, den 27Datum fehlt wegen Papierverlusts.
Lieber Bruder!
Länger als ich dachte, hat es sich verzögert, daß bis ich Dir Nachricht über die am 1. Juli erfolgte Ertheilung von Willys
Antheilam Erbe nach dem Tod des Vaters am 11.10.1888. Eine Auszahlung William Wedekinds war notwendig, da er mit seiner Frau im Herbst 1889 nach Südafrika auswanderte. Armin Wedekind hatte in der Sache bereits im Frühjahr mit Frank Wedekind korrespondiert [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 30.5.1889]. geben konnte. Das einfache Ergebniß der etwas complicirten Rechnung ist gestützt auf die am
1 Juli gültigen CurseDas Vermögen Friedrich Wilhelm Wedekinds war vor allem in Wertpapieren angelegt, die den üblichen Schwankungen unterlagen.
folgendes gewesen:
Gesammtbaarvermögen 180194 frs 87 cms
Antheile der Einzelnen:
Mama (Heiratsgut inbegr) 47168 " In der Übersichtstabelle der Erbteile sind in den untereinanderstehenden Beträgen die Währungsbezeichnungen „frs“ (Francs) und „cms“ (Centimes) durch Wiederholungzeichen fortgeschrieben.
45 "
Meine „Wenigkeit“ 5542 "die Centimes-Angaben fehlen wegen Papierverlusts.
Dein Antheil 20384 "die Centimes-Angaben fehlen wegen Papierverlusts.
Willy 18931 "
80 "
Frida 27902 "
10 "
Donald 28061 " 60 "
Emilie 32186 "
45 "
Das war am 1. Juli u Willy hat Donald seinen
Antheil mit Ausnahme von 3 PanamakanalobligationenDie von der Panamagesellschaft ausgegebenen Schuldverschreibungen für den Bau des Panamakanals konnten seit Dezember 1888 nicht mehr eingelöst werden und waren damit wertlos geworden. mitgenommen.
Du ersiehst aus dem Resultat, daß wenn mein
Antheil auch nicht groß war ich doch mit ihm bis heute noch nicht gut fertig | sein kann u daher Dein
freundliches AnerbietenAnscheinend hatte Frank Wedekind seinem Bruder angeboten, ihm von seinem höheren Erbteil bei Bedarf Geld zu leihen. mit
bestem Danke einstweilen abschlagen kann. – Donald der sich vor einigen Tagen telegraphisch
angemeldetDas Telegramm von Donald Wedekind an seine Familie ist nicht überliefert. Er befand sich seit Februar 1889 auf einer Nordamerikareise. hat u wohl das D/S/ehnsucht zum heimischen
Weihnachtsbaum bekommen haben muß wird dann wohl als getreuer Nachfolger von
Willy seinen Antheil am Vermögen ebenfalls in irgend einem schwarzen Ert/d/theil
anlegen wollen u es wäre wohl nicht überflüssig sich darüber zu äußern
ob einem solchen Vorschlage zu entsprechen sei.
Mama habe ich 10500 frs in Gotthardobligationenvon der Gotthardbahngesellschaft ausgegebene Schuldverschreibungen zum Bau und Betrieb der Gotthardbahn, die 1882 eröffnet wurde. ausgehändigt, die sie in Lenzburg deponirt hat, um kleinere Anleihen zur Bezahlung laufender Schulden Ausgaben darauf machen zu können, da es
ihr verleidet war mir jedesmal darum schreiben zu müssenArmin Wedekind war nach dem Tod des Vaters mit der Verwaltung des Geldvermögens betraut, so dass die Erben sich an ihn wenden mussten, wenn sie etwas ausbezahlt haben wollten. u ich nicht immer
momentanhier im Sinne von: sofort, gleich. schicken konnte. Die WasserleitungDer Brunnen auf Schloss Lenzburg war vor kurzem durch eine Wasserleitung ersetzt worden, die aus einem Wasserturm und einem Bassin gespeist wurde [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 18.8.1889]. ist jetzt bis oben hin fertig. Nun
haben sie die
Abtritte abgerissen, um sie zu renoviren. Wie das Alles geht, darüber kann ich
Dir keine Auskunft geben, Mama frägt mich natürlich über Nichts um Rath u kommt
nur von Zeit zu | Zeit her, um mir das fait
accompli(frz.) vollendete Tatsache. so weit sie es
mag mitzutheilen. Mieze ist ja, wie Du wohl weißt mit dem Apotheker Könignicht identifiziert; näherer Zusammenhang nicht ermittelt. so
schlecht wie verlobt, auch sie hat sich, klug geworden durch die gute Leitung
in der HenkelaffaireZu Pfingsten 1887 hatte sich Erika Wedekind mit Karl Henckell verlobt [vgl. Nb 63, Blatt 72v]. „Die Verlobung, die offensichtlich auf Schloss Lenzburg nicht auf Beifall stieß, wurde bald darauf wieder gelöst.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 123] die Sache ziemlich selbstständig zurechtgezimmert. Ueber den/as/
Entwicklungsstadium, das das Verhältniß gegenwärtig einnimmt bin ich nicht
orientirt. Weil ich mir bei unserm letzten AufenthaltArmin und Emma Wedekind waren ab dem 10. oder 11.8.1889 [vgl. Armin Wedekind an Frank Wedekind, 18.8.1889] für zwei Wochen in Lenzburg [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 22.9.1889]. einige Worte über eine
PensionärinFräulein Mink (siehe unten). „Wedekinds Mutter betrieb nach dem Tod ihres Mannes auf Schloss Lenzburg eine Pension für Feriengäste, um zusätzlich Einkünfte für sich und die Familie zu erzielen, solange das Schloss noch nicht verkauft war.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 136] Fräulein Mink wohnte seit Mitte Juli 1889 auf Schloss Lenzburg. erlaubte, die sich in ungeschminkter
Dreistheit das Vertrauen eines jeden zu erfrechen pflegte u ungenirt die Zimmer
u die Herzen eines jeden aller HausbewohnersSchreibversehen (unterlassene Folgekorrektur), statt: Hausbewohner. untersuchte u mit
dieser Mama äußerst imponirenden Art u. Weise auch aus ihr bald unsere
sämmtlichen Familienverhältnisse heraushatte, sodaß Mama von ganzem Herzen sichgestrichen und durch Unterpunktung wiederhergestellt. über Papa u seine ganze
hannoversche Verwandtschaft ausließ, – weil ich mirgestrichen und durch Unterpunktung wiederhergestellt. nun also über eine solche Stellung dieses
Fräuleins einige Worte entschlüpften, so trat ein Zerwürfniß ein u der so leicht
bekannte Spruch „Das ist nicht mein Sohn der aus Dir spricht“ ertönte. | Als
ich mit Emma am folgenden Tagewahrscheinlich der 24. oder 25.8.1889. abreiste wurden wir trotz vorheriger scheinbarer
Freundschaft ohne irgend ein Wort des Abschiedes entlassen, ungefähr wie man
einen Bettler von der Thüre weist. Diese meiner Frau vor Dienstboten und
Jedermann offen angethane Kränkung, die sich durch Nichts rechtfertigen läßt u zu deren Erklärung man höchstens die
„Hegung“ eines tief sitzenden Vorurtheils herbei ziehen kann ist bis jetzt
durch Nichts gesühnt worden. Als ich eine Satisfaction durch einen BriefDas Schreiben von Armin Wedekind an seine Mutter in Lenzburg ist ebensowenig überliefert wie der genannte Antwortbrief.
herbeizuführen hoffte, ward mir statt
dessen in
ebensolächerlicher W/a/ls unverständlicher Weise Neid u Mißgunst
vorgeworfen u gegen Emma wieder die mehr als alberne Anklage von Aufhetzung
geschleudert. Ich gab demSchreibversehen, statt: den. Brief Emma zur Beantwortung, die diese dummen Geschichten
Vorurtheile mit Lachen überging, dennoch aber nicht verhehlte welch
deprimirenden e/E/indruck die gefühllose u zweideutige Behandlung ihr
hinterlassen hatte, die sie auch vor der HochzeitArmin Wedekind und Emma Frey hatten am 21.3.1889 geheiratet. in Lenzburg erduldet
hatte u von der sie mir erst da die Hauptstückchen mittheilte. Darauf folgte
nun gar keine Antwort mehr; die Beleidigung saß, kränkte u damit war man ja
wohl zufrieden. | Die Fräulein Mink blieb als Siegerin u wurde auch für den Winter als
angenehme Gesellschafterin angenommen. F/I/rgend eine Spur, daß die ungerechte u gehäßig in
folge bornirenderSchreibversehen, statt: bornierter (engstirnig, uneinsichtig). engherziger Ideen angethane Beleidigung Emmas, die an der
ganzen Sache auch nicht die kleinste Schuld trug Mama Leid gethan hätte, davon
war keine Rede. Von Mieze erfuhr ichEin Brief von Erika Wedekind an ihren Bruder Armin in der Sache ist nicht überliefert, aber ein Brief an ihren Bruder Frank [vgl. Erika Wedekind an Frank Wedekind, 22.9.1889]. dann allerdings deutlich genug, daß zu
Hause weder der Wille noch ein Wunsch da war, die so tief u so gut eingepflanzten
u durch so fruchtbaren Mist des Eigendünkels u der Selbstgenügsamkeit zu üb/p/pigem
Wachstum gediehenen Vorurtheile abzulegen. Herrliche Bäume das u allerdings Ebenbilder einer Mink! Nur
was man selber ist oder sich zu sein wenigstens einbildet hat werth u
interessirt, das inter/st/ der Grundsatz der Entwicklung der
Individualität. Und diese ist so stark, daß sie es nicht ein Mal erträgt eine
andere Individualität neben sich zur Geltung kommen zu lassen, wenn sie nicht in das gleiche große
Horn hinein bläst.
Seither ist unser Verkehr ein geringer gewesen;
daß ich Emma einer solchen Behandlung nicht ein zweites Mal aussetzen kann
versteht sich von selbst u das thäte ich | wenn ich sie wieder veranlaßte in die Nähe blinden Haßes u Vorurtheils zu
kommen. Denn daß es nach das letztere ist u nicht etwa eine berechtigte
Abneigung, das beweisen mir die 12 Tage, wo wir in bester Freundschaft lebten
bis jene Bemerkung wie ein rothes Tuch einen wüthe tollen Stier so die das alte wahre G+++++g
Stimmung hervorbrachte. Aber
nicht nur Emma, sondern auch ich habe Lenzburg gemieden, mag ich mich doch
nicht dort vor Frl. Mink wiedersehen lassen, der es natürlich eine Wonne war an dem
Platze sitzen u schmarotzen zu können wo die Mutter ihren Sohn u dessen Frau in
solch schöner hochskandalöser Weise fortgejagt. – –
Sieh lieber, Bebi, daß das sind so die
Gedanken, die mich
bestürmen wenn Du mir schreibstFrank Wedekind hatte zuletzt um einen ausführlichen Brief gebeten [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 4.11.1889]., ich solle meinen Begleitbrief etwas länger
werden lassen. Daß sie die ersten sind die meiner Feder entströmen ist
vielleicht ein Zeichen unmännlicher Schwäche jedenfalls aber unklug. Denn ich
setze sie natürlich damit wieder Deinem so scharfen psychologischen Messer aus,
das daraus ganz andere Gebilde herausseciren wird als es/sie/ sind. Da
Du mich aber zu verschiedenen Malen aufgefordert hast, länger zu schreiben, so
mußt Du nun | eben das Resultat hinnehmen, u s/ich/, der es gegeben, muß seiner weiteren
Benutzung in fremder
Hand zu sehen. Immerhin hoffe ich, daß Du nicht wie Mieze von StettinErika Wedekind war zu Besuch bei der Familie von Josephine Brunnckow in Stettin (Grabowerstr. 34, 2. Stock) [vgl. Adreß- und Geschäfts-Handbuch für Stettin 1889, S. 25], die sie 1887 während ihres halbjährigen Aufenthalts im Lausanner Pensionat Duplan kennengelernt hatte [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 139]. Mama mit
einer KatalepsieStarrsucht, „ein eigentümlicher Zustand der Muskeln, bei dem die Glieder in jeder ihnen gegebenen Stellung unwillkürlich festgehalten werden. Die S. ist keine Krankheit für sich, sondern nur ein Symptom verschiedener Krankheitszustände. Sie tritt am häufigsten auf bei schwerer Hysterie“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Aufl. Bd. 18. Leipzig 1909, S. 863]. bedenken wirst noch ihr meine Worte als zartes
Muttersöhnchen wie jene Frage über den Gratulationsbrief, die ich einem solchen
überlegenen Helden der Psychologie wohl vorzulegen hoffen zu
dürfen hoffte ohne deswegen bei Mütterchen angeschwärzt zu werden mittheilen wirstFrank Wedekind berichtete seiner Mutter dennoch vom Brief des Bruders [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 4.12.1889].. Damals habe ich mich getäuscht
vielleicht jetzt wieder! Immerhin bitte ich zu bedenken, daß Mama jetzt mit
Wasserleitung, RebarbeitenArbeiten im Weinbau., Donalds hoffnungsvoller Rückkunft genug zu thun hat
u sich außerdem in behaglicher Weihnachts u zugleich verdienter = Lorbeerstimmungwohl im Sinne von Sieges- und Triumphstimmung; denkbar ist auch die beruhigende, entspannende Wirkung, die das Verbrennen von Lorbeerblättern hat. Kontext nicht ermittelt.
befindet.
Endlich hoffe ich bei Dir so viel männliches Gefühl
voraussetzen zu dürfen, daß Du nicht Emma vergelten läßt, was Du/ich/
mit Dir zu sprechen habe u ich wiederhole noch einmal, daß sie noch nie gegen
einen von Euch ein Wort fallen ließ, das nicht bitter durch die Wahrheit
gerechtfertigt war u daß/s/ von einem | aufhetzen von I/i/hrer
Seite oder einem „Entfremden wollen“ den Meinen gegenüber keine Rede ist. Wer
sich entfremdet hat, daß/s/ sind meine Leute mir gegenüber
gewesen, die zu klein sind als daß sie eine andere Meinung in ihrem Kreise
dulden. Emma hat Euch stets nur Liebe u Zutrauen gebracht, Haß, Kränkung und
hochmütige Kälte hat sie dafür neben äußerlicher Höflichkeit erfahren, ich aber
habe einen tiefen Blick in die Leute von der Pflege Lehre der „freien“ Individualität u des „gesunden“
EgoismusDer für Wedekind signifikante Egoismus-Diskurs [vgl. KSA 2, S. 820, 839f.] durchzog schon die gesamte Korrespondenz mit Adolf Vögtlin und war offenbar auch familienintern wiederkehrendes Thema [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, August 1884]. gethan. –
Lieber als diese bitteren Aeußerungen hätte ich
Dir anderes mitgetheilt, aber ich konnte es nicht über mich bringen das zu
unterdrücken, was zwischen Glück u Frieden im eigenen Hause wie ein schwarzes
Schemenundeutliche, gespenstische Erscheinung. oft dazwischentritt. Wohl weiß ich welche hochweisen Erklärungen meinen
Worten folgen werden aber nicht diese sind es die der Wahrheit nahekommen
sondern andere viel einfachere, die sich wie ich oben angedeutet zusammenfassen
lassen als der Egoismus der Individualität! Das mag ein Princip sein mit dem
man bequem durch die Welt kommt, Liebe pflanzt es nicht!
Zum Schluß meine herzlichen Grüße u die Hoffnung auf eine Zeit mit
klarerem u wärmerem Wetter zwischender Schluss des Satzes fehlt wegen Papierverlusts.
Dein Bruder Armin.