Zürich, d. 7. Juli 1885.
Lieber Bruder!
Gestern war Papa hier mit unsern drei Mädelndie Schwestern Erika und Emilie (Mati) Wedekind sowie die Cousine Tilly Kammerer., die
Dritte ist wie Du wissen wirst Cousine Tilly. Er erzählte mir, daß Du
wahrscheinlich am 15.am Samstag, dem 15.8.1885 [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 27.7.1885] endete die Vorlesungszeit in München. von München abreisen und Dich dann entweder in Zürich
oder in RomanshornReiseoptionen [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.7.1885]. einen Tag über aufhalten werdest. Es würde nun mir eine
große Freude machen,
wenn Du bei mirArmin Wedekind wohnte in Oberstrass (Universitätsstraße 15) bei Zürich. einkehren würdest. Wir würden dann mit einander nach Hause
fahren, da meine MonetenStudentensprache für (Münz-)Geld. wahrscheinlich gerade bis zu diesem Zeitpunkte
ausreichen werden. Immerhin möchte ich aber auf Dei|nen Reiseplan keinen
Einfluß ausüben, wenn Du vielleicht im Sinne hast, denselben anders zu
gestalten. –
Außer dieser ersten Sache ist es noch eine zweite quasi offizielle, die ich Dir
mitzutheilen habe. Ich habe nämlich beim SchöpfSchuhmacher in Lenzburg. ein Paar Schuhe bestellt, die
er mir nach gleichen Maßen, wie die im letzten Herbst erhaltenen machen sollte.
Nun macht er sie mir aber auf Deine Maße & jetzt weiß ich nicht, was ich
damit anfangen soll. Sie sind mir eben zu groß und ich müßte sie eventuell für den Winter
aufsparen. Hättest Du gerade welche nöthig & wären Dir diese angenehm, so
wäre damit allerdings der Sa Schwierigkeit abgeholfen. Daß/s/
sollte | ich nun allerdings sofort wissen & bitte Dich daher mir sofort
nur kurz zu melden welche Stellung Du zu dieser
kritischen Frage einnimmst. –
Soweit das offizielle. Du wirst zwar auch dies mal als den Grund des Briefes die
Schuhfatalität ansehen, allein wenn dieselbe mit dem ersteren Anlasse auch der/as/
Hauptmoment meines Schreibens aus macht, so habe ich doch immerhin den Vortheil
auf meiner Seite, daß die Reihe dies mal an Dir gewesen wäre. Aber das verzeih
ich gernr/e/, da ich ja selber weiß, was für ein unfruchtbarer Boden in München für
Correspondenzen ist. Mir ist es hierArmin Wedekind war zum Sommersemester 1885 für sein Medizinstudium von München nach Zürich gewechselt. dies Semester sehr gut gegangen.
Allerdings habe ich meine alten Tugenden noch nicht abgelegt, Kneipe & |
Bummelstudentensprachlich für gemeinsames Zechen und Besuche mehrerer Kneipen. hat immer noch mehr Interesse für mich als Klinik & Studium, aber es
hat sich jetzt wenigstens der Weg aufgethan, der durch Finsterniß zum Lichtdeutsch für die lateinische Redewendung ‚per aspera ad astra‘ (= ‚durch Mühsal zu den Sternen‘). d. h. durch Examensnöthen
zum Ende führt; ein einheitliches Arbeiten ist eben erst möglich, wenn man vor
sich sieht, was einmal verlangt wird im Examen. –
Ich denke mit Papa seinem Planevgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 22.7.1885. Zu einem Studienortwechsel kam es nicht; Frank Wedekind brach sein Studium in München im Sommer 1886 ab. , daß auch Du im
nächsten Winter hier in Zürich studiren sollest, wirst Du wohl ebenso wenig
einverstanden sein, wie ich. Ich habe allerdings auf bezügliche Anspielungen keine directen Einwendungen
gemacht, aber auch nie eingestimmt. Ein ZusammenwohnenWährend ihrer gemeinsamen Studienzeit in München im Wintersemester 1884/85 wohnten Armin und Frank Wedekind zusammen im Hinterhaus der Türkenstraße 30, 1. Stock. wäre einmal von vorne
herein nicht ersprießlich und wenn das nicht ist, so ist es noch | viel
unangenehmer bei so verschiedenen Neigungen, wie wir haben in derselben Stadt
zu studiren. Uebrigens weiß ich ja, daß in diesem Punkte unsere Ansichten
dieselben sind und brauche deshalb nicht viel Worte darüber zu machen. –
Wie es zu Hause geht wirst Du wohl beinahe besser
wissen als ich, denn meine Correspondenz war eine sehr geringe, und selbst
dagewesen bin ich auch nie. Desto mehr freue ich mich, dann mit Dir nach Hause
zu kommen, um auch einige Wochen Ferien zu genießen. Anfangs September gehe ich
dann zu Freund NiesenArmin Wedekinds Studienfreund Ernst Mützenberg war seit Frühjahr 1885 im Kanton Bern als Arzt zugelassen [vgl. Der Bund, Jg. 36, Nr. 105, 17.4.1885, S. (5)] und ließ sich in Spiez am Thuner See nieder, woher er auch stammte. Seinen Spitznamen (möglicherweise ein studentischer Biername) hatte er nach dem markanten Hausberg des Thuner Sees, dem 2362 Meter hohen Niesen., E. Mützenberg, um ihm erst zu assistiren und dann, während er Dienst hatArmin Wedekind vertrat Ernst Mützenberg während dessen Militärdienstverpflichtungen.
ihn zu vertreten. Du kannst Dir denken daß ich mich auf | diese meine erste
Praxis sehr freue, & wenn ich auch ein kleines Grauen vor der
selbständigen & verantwortlichen Stellung nicht unterdrücken kann. Deshalb
möchte ich auch, daß vorher nicht zu viel davon verlautet und bitte Dich darum um
Stillschweigen. Es wird aber gewiß gut gehen, da mir Niesen versicherte, es sei
gar nicht so schwer, wie man sich das vorstelle und andrerseits in schwierigen Fällen
immer ein benachbarter Arzt zu Rathe gezogen werden kann. Ist es dann noch schönes Wetter, so giebt das einen wundervollen
LandaufenthaltErnst Mützenbergs Praxis befand sich in Spiez am Thunersee, wo er in der Villa Marienberg eine Nervenheilanstalt „in reizendster Gegend des Berner Oberlandes“ [Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte, Jg. 15, Nr. 21, 1.11.1885, Beilage, S. 162] betrieb und Klinikarzt des Kurhauses Schonegg war [vgl. Der Bund, Jg. 36, Nr. 162, 14. Juni 1885, S. 4]. , wie ich ihn mir nicht schöner d/w/ünschen könnte. –
Gestern traf ich hier im Rekruten|kursIn der Schweiz galt für Männer eine Wehrpflicht vom 20. bis 44. Lebensjahr; den Rekrutenkurs hatten alle Diensttauglichen zu absolvieren [vgl. Handbuch des Oeffentlichen Rechts. Bd. 4. Das Staatsrecht der außerdeutschen Staaten. Erster Halbband. Zweite Abtheilung. Das Staatsrecht der schweizerischen Eidgenossenschaft. Bearb. v. Alois v. Orelli. Freiburg im Breisgau 1885, S. 49]. ein HernSchreibversehen, statt: einen Herrn. Koch
stud.wahrscheinlich Walo Koch aus Laufenburg, der vom Schuljahr 1881/82 bis zum Schuljahr 1883/84 parallel zu Wedekind das Gymnasium der Kantonsschule Aarau besuchte und ein Jahr nach ihm die Matura erlangt haben dürfte. Er studierte Medizin. aus Bern, der Dich grüßen läßt, indem er Dich von Aarau her kenne.
Mit ihm sind eine Menge ZofingerMitglieder der in Zofingen (Aargau) gegründeten, nichtschlagenden Schweizer Studentenverbindung Zofingia (Schweizerischer Zofingerverein), die in zahlreichen Orten vertreten war und der Armin Wedekind am 18.5.1881 beigetreten war. aus Bern hier im Dienst, und ich habe in Folge
dessen mein Quartier für den Nachtschoppen bei ihnen aufgeschlagen. Wer nie
einen durstigen Menschen gesehen hat, der sollte dahin kommen und würde gewiß
schnell begreifen lernen, wie Wein, Weib & Würfel das einzige sind, was
einen abgehetzten Soldaten noch das Gemüth bewegen kann. –
Solltest Du Zeit haben mich einen
längeren Brief zu schreiben, so würde das mich sehr freuen. Doch bin ich fast
noch mehr auf eine mündliche Erzählung Deiner Erlebnisse | in diesem S.S. gespannt. Um
schleunige Antwort wegen der Schuhe (es sind hohe Schnürschuhe) bin ich aber
sehr gespannt. muß ich aber dringend bitten. Im Uebrigen sage ich auf
fröhliches Wiedersehen und bleibe mit herzlichem Brudergruß Dein
Armin