Fluntern, d. 25.II.86.
Lieber Bruder!
Warum ich Dir erst heute Bericht gebe, Bericht,
den Du gewiß lange sehnlich erwartet hast mußt Du mich nicht fragen; meine
Entschuldigung bestände höchstens darin, daß ich erst eine günstige Stimmung
erwarten wollte, nachdem der erste FestmomentFriedrich Wilhelm Wedekinds 70. Geburtstag am 21.2.1886. verrauscht
war, um die schönen Erlebnisse würdig zu schildern. Und doch ist so viel gar
nicht zu erzählen. |
Samstag Abendder 20.2.1886. hatte ich mich sammt BüsteArmin und Frank Wedekind schenkten ihrem Vater gemeinsam eine Hermesbüste, vermutlich einer der weitverbreiteten Abgüsse der Büste des Hermes von Olympia (um 340 v. Chr., Praxiteles zugeschrieben). ohne,
daß Papa etwas merkte zu Hause eingeschlichen u alle Hände arbeiteten fleißig
daran, die von ihren Hüllen befreite, in reinstem Weiß
glänzende Gestalt würdig aufzustellen. So wurden auch bald einige rothe u grüne
Gardinen herbeigeholt, die die DrapirungDekoration durch kunstvoll in Falten gelegten Stoff. ausmachen sollten. Du kennst den
kleinen Schrank, der zwischen Ofen u Fenster an der Wand steht. Das war der
richtige Ort, auf den sogleich beim Eintreten Papas Augen auf das Bild | fallen
mußten. Es wurde also zuerst durch die rothen Vorhänge die Hinterwand von oben
bis unten in künstlerischem Faltenwurf bedeckt. Auf das Schränkchen kam ein umgekehrtes Butterfaß, daß/s/ mit dunkelgrünem Tuch
drapirt ein hübsches Postament gab. Auf dieses wurde die Büste gestellt. Auf
beide Seiten des Postaments stellte man Palmen; die Blumentöpfe u die Kommode selbst waren schnell mit dem gleichen grünen Ueberzug
malerisch bedeckt. Es sah wirklich prächtig aus. Die Büste glänzte auf dem | dunklen
Hintergrunde hell sich abhebend u doch war alles nicht grell sondern von
angenehmem gedämpftem Licht übergossen. So fand es der Morgen. Dein OpusFrank Wedekinds Geburtstagsgedicht für seinen Vater: „UNSERM LIEBEN VATER DR. F. W. WEDEKIND zum siebzigsten Geburtstage DEN 21. FEBR. 1886“ [Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 20.2.1886; vgl. KSA 1/I, S. 205-235; KSA 1/II, S. 2109-2122], das er am 20.12.1886 nach Lenzburg sandte (s. u.) [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 20.2.1886]. hatten
wir vergeblich überall und zu allen Zeiten erfragt, erst der nächste Nachmittagam 21.2.1886.
sollte es uns bringen.
Der Morgen kam. Wir gratulirten Papa mit allen
Freuden, Liebe glänzte auf allen Gesichtern. Der Mittag kam. Auch das richtige
Festmahl fehlte nicht. Endlich um 5 Uhr hatte ich das
langersehnte Werk in Händen. Papa ließen wir natürlich nichts merken. |
Nachdem schon die Abräumung der Büste befohlen,
zum Schluß des Abends aber noch ein Punsch
bestellt war, riefen wir Papa nach dem Thee zu der nach Deiner Anordnung
geschmückten Büste. Was nun folgte war zu schön, zu
ergreifend als daß ich es Dir mit vielen Worten beschreiben könnte. Papa saß an
seinem gewöhnlichen Platz, ich ihm gegenüber und die Uebrigen um den Tisch gruppirt.
Trotzdem ich d. Gedicht einmal durchgelesen hatte brauchte ich Mühe, die ersten, schönsten Theile desselben ohne Anstoß zu
lesen. Saß mir doch Papa tief ergriffen gegenüber, u hörte ich Mama neben mir
in | einer Rührung, die mir beinah den Athem nahm. Als das die
Sonett Ode kam, nahm ich den Kranz herunter u Mati überreichte ihn Papa
mit vieler all ihrer natürlichen Anmuth. Kurz der
ganze Abend wurde eine Feier, wie sie sowohl Papa, als wir nicht schöner,
erhabener, herzlicher uns hätten wünschen können. –
Wie tief ergriffen Papa von Deinem Gedichte war
wirst Du aus seinem nächsten Briefeder Dankesbrief Friedrich Wilhelm Wedekinds ist nicht überliefert, aber Frank Wedekinds Antwort darauf [vgl. Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 26.3.1886]. wohl bald selber merken. Mama war ganz
aufgelöst u die Kleinendie beiden jüngsten Geschwister Donald und Emilie Wedekind. in einer Stimmung, die ich nicht näher beschreiben
kann. | Und ich selbst danke Dir viel tausend Mal für das wunderschöne Werk,
das mehr werth ist, als der schönste Denkstein, das uns ermöglichte auf so
herzerhebende Weise den 70. Geburtstag unseres lieben
Vaters zu feiern. Wärst Du hier, so müßtest Du den besten u herzlichsten Kuß
haben, den Du je von mir bekommen hast. So kann ich nichts thun, als ihn bis zum nächsten Wiedersehen aufschieben, an dem Du ihn dann mit
Zinsen erhalten mußt. – |
Laß mich hier schließen, weil ich sonst doch
nichts mehr Rechtes zu berichten habe. Die FerienDas Sommersemester 1886 an der Zürcher Universität begann am 27.4.1886. über bleibe ich hier, Dein
nächster Brief läßt hoffentlich nicht länger auf sich warten. –
Die/er/ Preis der Büste, den Papa übrigens
gerne gewußt hätte, ich ihm aber nicht sagte beträgt 32 frs., von denen Du mir also die Hälfte gelegentlich, wenn es Dir paßt senden kannst. –
Mit vielen tausend Grüßen bleibe ich Dein treuer
Bruder
Armin