Fluntern, d. 1.II.86.
Pestalozzistraße 3.
Mein lieber Franklin!
Zuvor meinen besten Dank für Deine herzlichen
Neujahrswünschenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Frank Wedekind an Armin Wedekind, 29.12.1885. od.
vielmehr Geburtstagsw.Armin Wedekinds 23. Geburtstag war der 29.1.1886; der genannte „Druckfehler“ bezog sich vermutlich auf das Datum: 29.1.1886 statt 29.12.1885. (Druckfehler.) Dann aber noch mehr für Deine famose
Idee, ohne welche ich das Ereignißder 70. Geburtstag des Vaters Friedrich Wilhelm Wedekind am 21.2.1886. fast unbeachtet an mich hätte herankommen
lassen. Deinen Plan billige ich vollständig und werde mich morgen auf den Weg machen, hier bei
Appenzellerdie Kunst- und Schreibmaterialienhandlung von Heinrich Appenzeller in Zürich (Rathausplatz 26) [vgl. Adressbuch der Stadt Zürich für 1886, Teil I, S. 19]. Wedekinds Vater erwähnte in seinem Silvesterbrief sein Interesse für die dort im Schaufenster präsentierten Reproduktionen italienischer Meister [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.12.1885]. od. wo
es sonst möglich ist auf ein schö|nes Kunstwerk zu fahnden. Doch will ich auch
hierin Deinem Geschmack völlig freies Spiel lassen u gerne einem Vorschlag, den
Du aus München machst beistimmen. Die Preisliste werde ich mit allfälligem Vorschlag
Dir zuschicken und zum übrigen sage ich aus vollem Herzen Glück auf! Möge Dein
WerkFrank Wedekind schrieb im Namen der drei Brüder Armin, Franklin und William für seinen Vater zum Geburtstag ein langes Gedicht: „UNSERM LIEBEN VATER DR. F. W. WEDEKIND zum siebzigsten Geburtstage DEN 21. FEBR. 1886“ [Frank Wedekind an Friedrich Wilhelm Wedekind, 20.2.1886; vgl. KSA 1/I, S. 205-235; KSA 1/II, S. 2109-2122]. würdig sein, unsern lieben Papa, den ich auch leider erst in letzter Zeit
verstehen und daher richtig schätzen gelernt habe an seinem A „Siebzigsten“ zu begrüßen!
Um das Leben, das Du in München führst beneide
ich Dich | sehr. Es ist wahrh/l/ich schön, wenn man in einem Felde
thätig sein kann, zu dessen Bebauung man Lust und Liebe hat, vor allem aber
dann, wenn es noch einem Gebiet angehört, daß/s/ wie die Poesie dem Geiste des Schönen
unterworfen ist. Wie verteufelt man sich im ungefähr umgekehrten Fall befindet,
davon kann ich Dir selber ein das beste Exempel sein. Und doch ist mein
größter Wunsch, daß ich mich wirklich ganz in diesem Fall befände u nicht ein noch verteufelterer Leichtsinn mir
alle a/A/ugenblick das Gespenst des Examens mit seiner Ruthe aus den Augen
bannte. |
Doch genug davon. – Weihnacht u Neujahr war ich
zu Hause und lebte die seit einigen Jahren entbehrten Feiertagsfreuden wieder
einmal mit. Papa hatte große Freude über Dein BildFrank Wedekind hatte seinem Vater eine Reproduktion des Gemäldes der Madonna della sedia (1513/14) des italienischen Renaissancemalers Raffael da Urbino zu Weihnachten geschenkt [vgl. Frank Wedekind an Emilie und Friedrich Wilhelm Wedekind, 21.12.1885]. Das Bild wurde häufig reproduziert; es zeigt Maria, auf einem Sessel sitzend, mit dem Christuskind auf dem Schoß, neben ihr der Johannesknabe mit dem Kreuzstab.; ob Mama durch den zu Grunde
liegenden Gedanken oder die Sache selbst mehr erfreut war wird sie Dir wohl
selber mitgetheilt haben.
Einen ganz fröhlichen Abend verlebten wir in der
Gesellschaft der Lisa u Victor JahnTochter und Sohn der ‚erotischen Tante‘ Bertha Jahn.’s. Nur ist mir letztere geistig schon beinahe zu cordialherzlich. geworden, indem
ich eines Abends etwas bekneipt nach Jahns gekommen und dort von Deinem Bilde u
dessen gründlicher | Auslegung alz/l/zu stark angeregt sie beim Abschied
mi/sta/tt mit einfachen Händedruck mit einem zarten Taillendruck
entlassen wollte. Sie hat’s aber nicht
übel genommen. –
Hier spielt jetzt die WalküreRichard Wagners Oper „Die Walküre“ wurde erstmals am 27.1.1886 im Zürcher Actientheater (Direktion: Paul Schrötter) aufgeführt; bis zum 15.4.1886 folgten 14 weitere Aufführungen „zumeist bei ausverkauftem oder bestbesetztem Hause“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 68, Nr. 24, 24.1.1888, 2. Blatt, S. 2]. eine große Rolle.
Fleiner behauptetIn ihrer Kolumne „Theater“ berichtete die „Neue Zürcher Zeitung“ unter dem Kürzel „F.“: „Die Walküre ist gestern Abend vor beinahe ausverkauftem Hause siegreich über unsere Bühne geschritten und hat einen ungeahnten, durchschlagenden Erfolg erzielt. Die ganze Ausstattung und Inszenierung, die sich genau an das Bayreuther-Muster anschloß, war eine so überaus glänzende, daß wir dreist behaupten können, auf keiner der großen deutschen Bühnen je eine besser inszenierte Walküre-Vorstellung gesehen zu haben. Unsere Erwartungen sind weit übertroffen worden.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 66, Nr. 27, 28.1.1886, S. 2] in der Z.Z. „dreist“, daß er sie „auf keiner der G/g/roßen
deutschen Bühnen in besserer Ausführung gesehen habe.“ Möglich! – Vielleicht
gelingt es mir, Mama, die mir ein Geburtstagsgeschenkzu Armin Wedekinds 23. Geburtstag am 29.1.1886. schuldig geblieben ist zu einem
schnellen Besuche zu veranlassen.
Was hier sonst passiert, wird Dich wenig
interessiren. Grüß mir meine Münchner Bekannte, vor | allen WeltiDer Theater-, Musik- und Literaturkritiker Dr. Heinrich Welti war ein Freund Armin Wedekinds aus der Aarauer Schulzeit, der Frank Wedekind in das kulturelle Angebot Münchens einführte.. Sein BruderVon Heinrich Weltis fünf Geschwistern studierte sein Bruder Emil Welti aus München kommend seit dem Wintersemester 1885/86 an der Universität Zürich Medizin.
ist jetzt hier und klagt, daß er gar nichts von ihm erfahre. LaueFrank Wedekind hatte seinem Bruder offenbar von einer Erkrankung seines ebenfalls in München studierenden Schulfreundes Walter Laué berichtet, die der Betroffene schon einen Monat zuvor erwähnte [vgl. Walter Laué an Frank Wedekind, 5.1.1886]. bedaure ich
sehr, doch kann sich in solchem Falle Jeder gratuliren, wenn er mit 4 Wochen
Kranksein davonkommt. Das muß aber ein gemüthliches Leben sein, das Ihr
zusammen führtWalter Laué wohnte während seiner dreisemestrigen Studienzeit in München (1884/85 bis 1885/86) in der Amalienstr. 57 (1. Stock). Von der Schellingstr. 27 (3. Stock), wo Wedekind sein Zimmer hatte, waren es 170 Meter Fußweg [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals der Lehrer, Beamten und Studierenden an der königlich bayerischen Ludwig-Maximilians-Universität zu München. Winter-Semester 1885/86. München 1885, S. 60, 84].. Schicke mir nur noch mehr solche Proben Eurer Musevermutlich gemeinsam verfasste Gedichte. Walter Laué und Frank Wedekind hatten schon an der Aarauer Kantonsschule 1880/81 Gedichte ausgetauscht und einen Dichterbund gegründet [vgl. Wedekind an Walter Laué, 11. bis 28.2.1881]., kann ich
auch durch Kritik nichts nützen, so „habe ich doch meine Freude daran.“Zitat einer Replik von Mephistopheles aus Goethes „Faust. Erster Theil“: „Hab‘ ich doch meine Freude dran!“ [Johann Wolfgang Goethe: Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Bd. 14. Weimar 1887, S. 178]. Ebenso
wie an Tante Jahn ihrer AngelikaVon Wedekind gegenüber seiner ‚erotischen Tante‘ Bertha Jahn erfundene Münchner Geliebte, mit der er das bestehende Verhältnis mithilfe dieses „fingierten Distanzierungs- und Täuschungsversuchs“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 120] aus der Ferne zu beenden suchte. Er widmete Angelika sogar Gedichte [vgl. KSA 1/I, S. 203f. und 1011f.] Im Dezember ließ er sie sterben, nicht ohne noch angeblich an ihren offenen Sarg gereist zu sein [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 12.1885]., die sammt ihrem KindeLisa Jahn, Bertha Jahns Tochter, war vor kurzem schwer krank gewesen [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 12.1885]. immer noch der
Gegenstand ihres zartesten Mitgefühls ist. Gegen Walter Oschwald hätte ich mich
fast verplaudert. Er lachte | auch über die Geschichte und somit hielt ich ihn
für einen Wissenden. Beinahe zu spät merkte ich, daß er selber auch im Banne der Geschichte sei. –
Erlaub mir den Schluß! Weß Machte ich auch Gedichte, so würde
ich den lehrenSchreibversehen, statt: leeren. Raum noch füllen können, so muß ich’s dabei bewenden lassen. Zu den ZähnenWedekind war wegen kariöser Zähne schon früh gezwungen, ein Gebiss zu tragen. Zum Erhalt der verbliebenen Zähne bekam er ausführliche Ratschläge von seinem Vater [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 31.12.1885]. gratulire
ich noch, nur möchte ich Dich dringend warnen, sie jeden Abend herauszuthun,
weil sie meistens nicht so leicht rutschen, wie in diesem Falle.
Schreib mal bald wieder was, wenn’s auch nur ein Paar Zeilen sind. Bis dahin u auch
weiter’s lebwohl u sei herzlich
gegrüßt von Deinem
Armin.