An Oskar.
I.
Ha, wie durchbebt es meine Glieder,
Daß heuteAm 16.9.1881 wurde Oskar Schibler 19Jahre alt. Dein
Geburtstag ist!
Die Musegriechisch römische Mythologie; hier: Personifizierung der Dichtung. schmettert
ihre Lieder;
Sie hat gerastet kurze Frist.
Es wird der Pegasusin der griechisch-römischen Mythologie das geflügelte Pferd; hier: das Dichterross.
bestiegen;
Auch er genoß der süßen Ruh.
Und schneller, als die Aare fliegen,
Ging es dem reinen Äther zu.
Hoch
über dem Geräusch der Erde,
Fern von der Menschheit wildem Schwarm
Hielt ich auf meinem Flügelpferde
Die schönste Göttin(griech.) Aphrodite, (lat.) Venus; die Göttin der Schönheit, Liebe und Erotik.
kühn im Arm.
Ha, wie da meine Pulse flogen,
Den Augenblick vergeß ich nie:
Tief hab’ ich Liebe eingesogen,
Berauscht von ihrer Melodie. |
Ja,
Oskar, das war eine Wonne,
Wenn auch für wen’ge Stunden nur:
Ein Liebchen, wie die lichte Sonne
In unverschleierter Natur.
Natürlich war ihr ganzes Wesen,
e/E/in jeder Zwang war ihr verhaßt.
In ihren Blicken konnt ich lesen,
Was du noch nie gelesen hast. –
Und nun
bedenke: Dieser Busen,
Von edler Leidenschaft bewegt,
In dem die s/S/chönste aller Musen
Ein zärtlich liebend Herze trägt!
Und diese Glieder, weich und sphärisch;
Von scharfen Kanten keine Spur,
Der TeinSchreibversehen, statt: Teint. Von Bertha Jahn mit Bleistift korrigiert. Durchsichtig
und Ätherisch –
Das schafft nicht irdische Natur. |
So ließ
sie vor mir auf dem Rücken
Des edeln Thiers sich aufwärts ziehn;
Und ich ließ
trunken mich entzücken
Von ihren süßen Melodien. –––
So nimm denn diese kleine Gabe
Als Zeichen meiner Freundschaft hin;
Es ist das Beste, was ich haben:
Ein Lied von meiner Königin.
II.Wedekind publizierte den folgenden Teil des Briefgedichts überarbeitet und gekürzt als Gedicht unter dem Titel „Stallknecht und Viehmagd. Carmen bucolicon“ zuerst in der Sammlung „Die vier Jahreszeiten“ (1905) [vgl. KSA 1/I, S. 798].
Die Bärin wohnt im tiefen Walde,
Im tiefen Wald wohnt auch der Bär.
Und an demselben Aufenthalte,
Da wohnen bald darauf noch mehr.
Doch im Olympder Sitz der Götter., da
wohnen Götter,
Darunter Venusdie Göttin der Schönheit und der erotischen Liebe. und ApollGott des Lichts, Beschützer der Künste und der Musik..
Dort hat man ewig schönes Wetter,
Und jeder Gott ist – liebevoll. |
Auf ödem
Felde schafft die Viehmagd,
Thut ob der Arbeit manchen Schrei.
Jedoch CupidoGott und Personifikation der Liebe (Cupido erweckt die Liebe in einem Menschen, indem er einen Pfeil in dessen Herz schießt); auch: Amor; (griech.) Eros., der sich
nie plagt,
Sitzt freundlich lächelnd nebenbei.
Er sitzt dabei auf einem Steine,
Hät/l/t Pfeil und Bogen in der Hand
Und spreitzt gemüthlich seine Beine,
Als wärs in seinem Vaterland. –
Nun
kommt der Stallknecht mit den Kühen,
Auch Ochsen ziehen an dem Pflug.
Doch muß er selbst am meisten ziehen,
Dann geht es eben schnell genug. –
Da duckt se/ic/h AmorSynonym für Cupido.
listig nieder;
Er legt den Bogen an mit Lust
Und schießt die ViemagdSchreibversehen, statt: Viehmagd.
durch das Ni/M/ieder
In ihre ahnungslose Brust. |
Der
Stallknecht kommt herbeigesprungen,
Auf daß er rasche Hülfe bringt.
Doch Amor trifft den armen Jungen,
Daß er mit ihr zu Boden sinkt.
Da liegen Stallknecht nun und Viehmagd
Und schauen sich verwundert an;
Vollführen freudig, was man nie sagt,
Doch was man leicht errathen kann.
17.IX.1881.Vermutlich ein Schreibversehen, statt: 16.IX.1881. (siehe oben Anmerkung „heute“), dem Geburtstag Oskar Schiblers, der sich zu diesem Anlass ein Gedicht Wedekinds gewünscht hat [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 15.9.1881], für das er sich am 17.9.1881 bedankte [vgl. Oskar Schibler an Wedekind, 17.9.1881].