Kennung: 3767

München, 7. Juli 1914 (Dienstag), Brief

Autor*in

  • Wedekind, Tilly

Adressat*in

  • Wedekind, Frank

Inhalt

T. W.


Dienstag, 7.VII.14.


Theuerster, innigst geliebter Frank,

tausend Dank für Deinen lieben Brief vom 6.vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 6.7.1914 (Brief). Das ist so schön, dass die Briefe von Paris nach München so schnell hin u. her gehen. Dadurch fühle ich mich Dir näher u. das macht mich glücklich! Heute hat es den ganzen Tag geregnet. Doch im Besitz Deines Briefes hat mich das nicht allzusehr gestört. Vorige Woche konnte mich die schönste Sonne nicht glücklicher machen. Bei wirklich ernsten Gemütsbewegungen hat das Wetter glaub’ ich auch keine Bedeutung mehr für mich.

EinigsSchreibversehen (oder individuelle Schreibweise), statt: Einiges. beunruhigt mich in Deinem Brief. Du | schreibst von Bertl: ob er wirklich Geld unterschlägt oder nur in den Verdacht kommt, seine Carrière ist ruiniert. Erstens bin ich nicht in den Verdacht gekommen. Und 2. wäre es sehr fraglich, wenn z. B. der Bankdirector einen anonymen Brief erhält, ob das Bertl’s Stellung auch nur im Geringsten erschüttern würde. Gewiss wird es neidische Menschen genug geben, die uns für ihr Leben gern schaden würden. Ich glaube auch absolut nicht, dass ich es so schlecht bei Dir habe. Aber viele andere haben es doch auch nicht schlecht u. haben ausserdem auch mit ihren Angelegenheiten genug zu tun. Aber schließlich möchte doch keiner mit dem andern tauschen u. die Leute werden sich | auch nicht immer nur mit uns beschäftigen, wenn wir auch vielleicht sehr interessant sind. Ich glaube wirklich, dass man das leicht selbst überschätzt, u. sich die Leute gar nicht so lange damit aufhalten. Am Meisten ärgert die Menschen natürlich, das gerade das, dass wir so zu einander halten. Was ist die einzige Antwort darauf? Dass wir umso fester zueinander halten. Dann werden sie uns schließlich in Ruhe lassen. Dann werden sie sogar vielleicht so etwas wie Achtung davor haben. Wenn Du meinst, dass Bertl mir die Dinge klarer machen kann, er hat glaub’ ich ab Mitte August UrlaubTilly Wedekinds Bruder Dagobert Newes „kam nicht im August nach München. Gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde er eingezogen“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 258]. u. würde sicher gern zu uns kommen. Er schätzt u. liebt Dich sehr u. mich auch u. er ist objectif/v/e. |

Ich habe getanzt Vormittag, an meine Eltern geschriebenTilly Wedekinds Brief an ihre Eltern Eduard und Mathilde Newes ist nicht überliefert., aber weder Zusage noch Absage, da ich ja nicht weiß wann Du kommst. Nachmittags war ich mit beiden Kindern in der Stadt. Für Fanny Kadidja hab’ ich ein Regenmäntelchen gekauft, damit sie bei dem vielen schlechten Wetter nicht immer im Wagerl(bayrisch) kleiner Wagen, Kinderwagen. fahren oder getragen werden werden muss, Anna Pamela brauchte wieder GaloschenÜberschuhe., da ihre alten über kein Paar Schuhe gehen die ihr passen.

Die Kleine wird also dieser Tage geimpft werden. Ich habe telephonisch angefragt u. erhalte morgen Bescheid.

Es kann sein, dass alle oder viele Verheirateten das durchzumachen haben, aber es gehen ja auch genug Ehen auseinander u. es gehen ja auch genug daran zu Grunde, besonders Frauen. |

Das Simson-VerbotNachdem die Polizeidirektion München eine am Münchner Schauspielhaus geplante „Simson“-Aufführung am 12.6.1914 verboten und die Direktion des Münchner Schauspielhauses dagegen Beschwerde eingelegt hatte [vgl. KSA 7/II, S. 1331f.], bestätigte die Zensurbehörde das Aufführungsverbot durch einen Beschluss des bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 4.7.1914: „Das K. Staatsministerium des Innern hat die Verhandlungen oberaufsichtlich geprüft. Ein Grund zur Aufhebung der angefochtenen Entschließung wurde hiebei nicht wahrgenommen. Die Beschwerde wird daher kostenfällig abgewiesen.“ [KSA 7/II, S. 1385] ist also leider aufrecht erhalten worden. Ich schicke Dir morgen den Ausschnittein Zeitungsausschnitt der Meldung aus den „Münchner Neuesten Nachrichten“ über das „Simson“-Verbot [vgl. Wedekinds „Simson“ und die Zensur. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 344, 8.7.1914, Vorabendblatt, S. 2-3], die im Vorabendblatt gedruckt bereits am 7.7.1914 erschienen ist. aus den „Münchner Neuesten“. Frau Dr. Pariser telephonierte mir eben darüber, u. auch Dr. FriedenthalDr. jur. Joachim Friedenthal, Schriftsteller, Redakteur, Korrespondent des „Berliner Tageblatt“ in München (Georgenstraße 53) [vgl. Adreßbuch für München 1915, Teil I, S. 175], hatte auf der Protestversammlung gegen die Zensur am 6.7.1914 in der Schwabinger Brauerei in München für die Annahme der von Erich Mühsam zur Abstimmung vorgelegten Resolution gestimmt, wie der Polizeispitzelbericht festhält [vgl. KSA 7/II, S. 1386]. Friedenthal berichtete im „Berliner Tageblatt“ über das „Simson“-Verbot (siehe oben) und die Protestversammlung: „Unser Korrespondent telegraphiert uns aus München: Wedekinds ‚Simson‘ ist jetzt in München endgültig verboten worden. Der Bescheid werde von der letzten Instanz, dem Staatsministerium des Innern, heute veröffentlicht, und selbst die übliche Probevorführung wurde, wie das Schreiben mitteilt, nicht für nötig befunden. Gestern fand eine überaus stark besuchte Versammlung statt, in der der Schriftsteller Erich Mühsam als Redner die Tatsache dieses Verbots kennzeichnete und verurteilte. Nach einer lebhaften Diskussion wurde in einer Resolution die ‚Bevormundung des Geistes als überflüssig, schädigend und unwürdig erklärt.‘ Eine starke Bewegung für die Abschaffung der Zensur überhaupt wurde als dringend geboten erachtet.“ [Wedekinds „Simson“ für München endgültig verboten. In: Berliner Tageblatt, Jg. 43, Nr. 339, 7.7.1914, Abend-Ausgabe, S. (3)] hatte angerufen. Frau Dr. Pariser ist durch das schlechte Wetter wieder in die Stadt geflüchtet, auch gehen sie erst vom 15. ab vollständig hinaus, ich dachte schon vom 1. Bis jetzt sind sie nur immer über Sonntag paar Tage draußenErna Pariser und ihr Ehemann Dr. phil. Ludwig Pariser wohnten in München (Georgenstraße 30) [vgl. Adreßbuch für München 1915, Teil I, S. 504], aber „in den Sommermonaten zeitweise in Possenhofen am Nordwestufer des Starnberger Sees“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 207].. Es soll heute drinstehen, das Ministeriumdas in München ansässige bayerische Staatsministerium des Innern (Theatinerstraße 21), das das „Simson“-Verbot für München bestätigt hatte (siehe oben). habe die Berufung abgelehnt. Die Redaction soll hinzufügenIm redaktionellen Bericht der „Münchner Neuesten Nachrichten“ über das „Simson“-Verbot heißt es abschließend: „Was in Berlin und Wien erlaubt ist ‒ in diesen Städten wurde ‚Simson‘ anstandslos gegeben ‒ ist also nach Meinung unserer Behörden für München schädlich. Der Akt geistiger Bevormundung, der durch die neue Entscheidung der Zensur gegeben worden und jetzt durch ein bayerisches Ministerium unterstrichen worden ist, wird die unter der Mehrzahl der Gebildeten verbreitete Meinung über die Existenzberechtigung einer behördlichen Zensur in literarisch-dramatischen Dingen wieder einmal mehr in negativem Sinne bestärken.“ [Wedekinds „Simson“ und die Zensur. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 344, 8.7.1914, Vorabendblatt, S. 2-3], dass sich, nachdem Simson in Berlin u. WienWedekinds Versdrama „Simson oder Scham und Eifersucht“ wurde am 24.1.1914 im Lessingtheater in Berlin uraufgeführt [vgl. KSA 7/II, S. 1331, 1338-1350] und hatte am 11.5.1914 im Johann Strauß-Theater in Wien Premiere [vgl. KSA 7/II, S. 1331, 1371-1373]. war, die Berechtigung der Zensur in negativem Sinn bestätigt hat. Die gestrige Versammlungdie von Erich Mühsam initiierte Protestversammlung gegen die Zensur am 6.7.1914 in der Schwabinger Brauerei in München, an der Tilly Wedekind teilgenommen hat [vgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 6.7.1914]. hat wohl darauf noch keinen Einfluss ausgeübt, denke ich mir, wenn es heute schon drinsteht. |

Anbei ein Brief von Anna Pamelanicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Pamela Wedekind an Frank Wedekind, 6.7.1914.. Ich sagte ihr, sie soll Dir schreiben was sie den ganzen Tag treibt. Aber ihre Briefe sind vorläufig noch sehr kurz u. bündig. Aber ich denke, ich lasse sie schreiben was ihr selbst einfällt. Es hat doch keinen Wert wenn ich es ihr dictiere. Neulich trafen wir ihr Fräuleinnicht identifiziert; „ihre Klassenlehrerin“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 259] am Institut Savaète – Höhere Mädchenschule mit Pensionat (Ludwigstraße 7), das Pamela Wedekind besuchte. im Ungerer Bad. Sie sagte mir, sie sei sehr zufrieden mit ihr, sie habe sich sehr gebessert, wir würden eine Freude mit dem Zeugniss haben.

Nun lebwohl für heute, Geliebter, es ist schon wieder spät geworden.

Sei innigst, innigst geküsst!
Deine Tilly |


Fr. Dr. Pariser, Dr. Friedenthal lassen Dich grüßen. Fr. EysoldGertrud Eysoldt hat an der Protestversammlung gegen die Zensur in der Schwabinger Brauerei in München am 6.7.1914 teilgenommen [vgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 6.7.1914]. natürlich auch. Wenn Du ihr vielleicht eine Karte schreiben willst ihre Adresse ist hier: Kaulbachstr. 12, Gartenhaus. „Frauenstimmrecht“. Sie wohnt glaubt ich in der Wohnung der AugsburgGertrud Eysoldt wohnte während ihres Aufenthalts in München bei Dr. jur. Anita Augspurg (Kaulbachstraße 12, Gartenhaus, 1. Stock) [vgl. Adreßbuch für München 1915, Teil I, S. 19], wo sich auch das Büro des Bayerischen Landesverbandes und der Münchner Ortsgruppe für Frauenstimmrecht befand [vgl. Adreßbuch für München 1915, Teil II, S. 320], außerdem die Redaktion der von Anita Augspurg herausgegebenen Zeitschrift „Frauenstimmrecht“ (Redaktionsadresse in den Heften angegeben). u. ist wohl viel herinwohl im Sinn von ‚dort drinnen‘ (= dort anzutreffen)..

Es umarmt Dich innigst, Deine Tilly

Einzelstellenkommentare

Materialität des Dokuments

Bestehend aus 4 Blatt, davon 7 Seiten beschrieben

Schrift:
Lateinische Schrift.
Schreibwerkzeuge:
Feder. Tinte.
Schriftträger:
Papier. Doppelblatt. Seitenmaß 18 x 18 cm. Mit aufgeprägtem Monogramm. Gelocht.
Schreibraum:
Im Hochformat beschrieben.
Sonstiges:
Das aufgeprägte Monogramm befindet sich außer auf Seite 1 auch zu Beginn des zweiten Doppelblatts auf Seite 5 (hier nicht wiedergegeben).

Datum, Schreibort und Zustellweg

  • Schreibort

    München
    7. Juli 1914 (Dienstag)
    Sicher

  • Absendeort

    München
    Datum unbekannt

  • Empfangsort

    Paris
    Datum unbekannt

Erstdruck

Briefwechsel 1905‒1918. Band 1: Briefe

Autor:
Frank Wedekind, Tilly Wedekind
Herausgeber:
Hartmut Vinçon
Verlag:
Göttingen: Wallstein
Jahrgang:
2018
Seitenangabe:
329-331
Briefnummer:
477
Status:
Sicher

Informationen zum Standort

Münchner Stadtbibliothek / Monacensia

Maria-Theresia-Straße 23
81675 München
Deutschland
+49 (0)89 419472 13

Informationen zum Bestand

Name des Bestandes:
Nachlass Frank Wedekind
Signatur des Dokuments:
FW B 221
Standort:
Münchner Stadtbibliothek / Monacensia (München)

Danksagung

Wir danken der Münchner Stadtbibliothek / Monacensia für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe des Korrespondenzstücks.

Zitierempfehlung

Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 7.7.1914. Frank Wedekinds Korrespondenz digital. https://briefedition.wedekind.fernuni-hagen.de (21.11.2024).

Status der Bearbeitung

In Bearbeitung
Zum Prüfen bereit
Freigegeben

Erstellt von

Ariane Martin

Zuletzt aktualisiert

12.12.2022 13:43