T. W.
Montag,
29.VI.14.
Mein einziger, innigst geliebter Frank,
Du bist also nach Paris! Lebwohl, wann werden wir uns
wiedersehen?
Dieser plötzliche Entschlussnach Paris zu reisen, wie Wedekind seiner Frau telegrafierte [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 29.6.1914]. bedeutet nichts Gutes für mich.
Es wird mir schwer, Dir alles zu sagen, was ich denke u. fühle. Meine
Empfindungen zu Papier zu bringen. Verzeih’ mir deshalb u. beurteile es nicht
anders als es gemeint ist. Ich gönne Dir alles Gute, unterhalte Dich, – ich
werde warten, mit namenlosem Schmerz werde | ich warten.
Was habe ich Dir in dem ersten Briefvgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind. München, 27.6.1914. geschrieben? Oder haben
Dich Deine Gedanken dazu gebracht, plötzlich weiter zu reisen? Weitere „NachsendungenZitat aus Wedekinds Telegramm vom 29.6.1914 an seine Frau (siehe oben).“
nach Paris? Dann willst Du vielleicht gar keine Briefe von mir? Verzeih mir
meine Briefe. Ich bin so blöde von dem vielen Weinen, ich weiß nicht mehr, was
ich schreibe. – Vielleicht ist alles gar nicht so schlimm, vielleicht ist es
aber auch noch viel schlimmer.
Vielleicht verliere ich Dich, verliere ich alles! Was habe
ich getan, um diesen Jammer zu verdienen!
Die Onanieim zeitgenössischen Verständnis „unnatürliche Befriedigung des Geschlechtstriebes, schwächt den Körper und schädigt den sittlichen Charakter“ [Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon. 5. Aufl. Bd. 2. Leipzig 1911, S. 309]. hat mein Leben zerstört. | Sie hat meinen Geist
u. meinen Charakter getrübt. Warum bin ich nicht als Kind gestorben, bevor ich
das alles wusste!
Frage einen Nervenarzt, er kann Dir
vielleicht Aufschluss geben über meine „Theilnahmslosigkeit“ meine „Interesselosigkeit“.
Geistig minderwertig! Und Du glaubst ich täte nicht alles gern was Du
wünschest, wenn ich es nur könnte!!
Ich weiß was Du unter meiner Apathie gelitten, weiß es nur zu gut. Empfand es oft eben so quälend, wie
Du selbst, u. konnte nichts dagegen machen. „Willst Du nicht endlich etwas
sagen, Tilly“? Wie oft habe ich das gehört. | Ich sage es jedem der es hören
will, wie schrecklich für Dich meine Schwerfälligkeit ist. Die Leute nennen es
falsche BescheidenheidSchreibversehen, statt: Bescheidenheit. von mir, u. doch sehe ich ihnen an, dass sie mich auch
sehr schwerfällig finden.
Mein theuerster Frank, Du wirst in Paris alles finden, was
ich bin, u. viel besser noch! Ich werde vielleicht überflüssig. Denn was habe
ich sonst noch zu geben? Begreifst Du da nicht meine Engherzigkeit? „Wenn Du 14
Tage ohne mich gelebt hast“
Warum sitze ich eigentlich hier u. warte auf alles, was noch
über mich kommt? Geliebter, ich bin feige u. klein u. mutlos! | Ich bitte Dich
um Erbarmen! Aber Du schreibst,: „innigst, Frank.Zitat aus Wedekinds Telegramm vom 29.6.1914 an seine Frau (siehe oben).[“] Vielleicht ist doch alles
nicht so schlimm, andere Leute fahren auch nach Paris. Habe ich noch nicht
alles verloren? Bleibt mir noch etwas, wenn auch nur ein Theil? So glücklich
wie ich in Berlin warAnspielung auf die gemeinsame Zeit in Berlin in den Jahres 1905 bis 1908, insbesondere nach der Heirat am 1.5.1906., werde ich nie mehr sein! Ich danke Dir für diese schöne,
glückliche Zeit, Geliebter! Ich danke Dir für alles was Du mir gegeben hast!
Ich küsse Dir die Hände für alles was ich von Dir habe!
Sage mir doch um Gottes Willen was ich tun soll, um diese
Zeit zu ertragen! | Ich hatte ja gar nichts anderes erwartet, als, dass Du
diesen Sommer wieder einige Wochen weg fährst. Du warst voriges Jahr in RomWedekind ist am 19.6.1913 allein nach Rom gereist und blieb dort bis zum 11.7.1913 [vgl. Tb]., u.
ich habe mich darein gefunden. Du warst im Januar 14 Tage in BerlinWedekind war vom 11. bis 21.1.1914 ohne seine Frau in Berlin [vgl. Tb]. u. ich
konnte mich doch die Zeit über beschäftigen. Aber warum musste es jetzt so kommen!
Warum musste Deiner AbreiseWedekind, der dem Kontobuch zufolge am 25.6.1914 „Fahrkarten nach Florenz“ gekauft hat, reiste zwei Tage nach dem vorgezogenen Bankett zu seinem 50. Geburtstag im Bayerischen Hof in München am 24.6.1914, das angesichts seiner krisenhafte Ehe einen für ihn irritierenden Verlauf nahm [vgl. Vinçon 2014, S. 252], am 26.6.1914 allein ab nach Florenz: „Koffer gepackt Tilly begleitet mich auf den Bahnhof. Abfahrt nach Florenz.“ [Tb] dieser entsetzliche Tagder Abend des 24.6.1914, an dem das Bankett zu Wedekinds 50. Geburtstag im Bayerischen Hof in München stattfand – er endete mit einem Eklat [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 3.7.1914].. vorausgehen?! Immer noch
höre ich alles was Du gesagt hast. „Ich will auch wieder jemand triumphierend
in die Augen sehen.“ Du kannst nun vielen triumphierend in die Augen sehen, vielen!
Allen! |
Auch mir. Denn ich bin elend ohne Dich! Vollständig
niedergedrückt! Und werde Dir dankbar sein für jedes gute Wort! Vielleicht habe
ich es wirklich nicht hoch genug geschätzt, was ich hatte, darum habe ich es
verloren. Aber niemandem habe ich Anlass gegeben zu triumphieren!
Aber nun haben sie, was sie wollten. Wie werden sich die
Menschen freuen! Sie haben es soweit gebracht als sie wollten.
Wie hasse ich alle diese bösen Menschen! Ob sie einem gut oder
böse gesinnt, sie bringen immer nur Unfrieden! Ich will niemanden mehr sehen,
es | wird das Beste sein, ich stelle mich krank. Wohl fühle ich mich ja
wirklich nicht!
Es wird spät. Die Mädchen schlafen. Also habe ich auch Gott sei
Dank nicht diese kalten, bösen,
neugierigen Blicke zu fürchten. Alle diese Feinde um mich, wie werden sie
lachen!
Ich bin Gott sei Dank wenigstens allein u. kann weinen.
Ich kann in Deine Zimmer gehen, Deine Stühle ansehen, Deinen
Schreibtisch, Dein Bett. –
Ich werde die Mädchen fortschicken u. mich an die Kinder klammern.
Das ist ein Trost. Die Menschen sind schrecklich! Allein sein, immer an das
Alles denken, da werde ich verrückt! |
T. W.
Jetzt kommt mir ein entsetzlicher Gedanke! Du hast
vielleicht nur den Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 27.6.1914. mit den Telegrammenwohl zwei Telegramme, die als Telegrammentwürfe überliefert sind; vgl. Louise Dumont und Gustav Lindemann an Wedekind, 24.6.1914; vgl. Schauspielhaus Düsseldorf an Wedekind, 24.6.1914. erhalten, wo ich nur: Herzlichst,
Deine TillyZitat aus dem nicht überlieferten Brief vom 27.6.1914 (siehe oben)., draufschrieb? Ich gieng gerade mit Anna Pamela zu den Törsleff
KindernGudrun, Rigmor und Svend Törsleff (6, 11 und 12 Jahre alt, Kinder von Maja und Lauritz Christian Törsleff) tanzten am 27.6.1914 in den Münchner Kammerspielen, wie die Presse berichtete: „Eine Privat-Tanzaufführung der Geschwister Törsleff fand am Samstag nachmittag in den Münchner Kammerspielen statt, um den Gönnern und Freunden dieser talentierten Kinder wieder Proben ihrer Fortschritte zu geben. Man kennt das anmutige Geschwistertrio schon von anderen Vorführungen, wie von Einlagen in Theaterstücken, her. Aus dem Spiel der Kinderstube, aus dem Reigen zu dreien, hat sich nach und nach dank der Mithilfe erster Kräfte […] eine Virtuosität kindlicher Anmut, ein selbstverständlicher Ausdruck mimischen und rhythmischen Spiels entwickelt“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 67, Nr. 327, 28.6.1914, General-Anzeiger, S. 3]. Tilly Wedekind hat diese Vorstellung mit ihrer Tochter Pamela besucht. u. wollte Dir nur schnell die Telegramme schicken, weil eine Rückantwortmit dem Kürzel „rp“ für ‚réponse payée‘ (frz.) = ‚Rückantwort bezahlt‘ versehenes Telegramm. dabei war. Am selben | Abend, also Samstag,
den ersten den ich allein war, schrieb ich Dirvgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 27.6.1914.,
gestern schrieb ich Dirvgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 28.6.1914., heute schrieb ichden vorliegenden Brief..
Mir klopft das Herz vor Schreck! Wie soll das nur werden?!
Ich gehe jetzt den Brief aufgeben u. telegraphierenvgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 29.6.1914. Das Telegramm wurde um 23.55 Uhr aufgegeben..
Ich küsse Dich innigst Du geliebter Frank,
Deine treue, dankbare Tilly