Berlin 20.1.14.
Geliebteste Tilly!
Am Sonntag abendWedekind war am 18.1.1914 zu Gast auf einer Abendgesellschaft bei dem Privatgelehrten und Schriftsteller Dr. phil. Julius Elias (Matthäikirchstraße 4) [vgl. Berliner Adreßbuch 1914, Teil I, S. 613], saß mit Änne Wolff (geb. Hickethier), seit 1902 verheiratet mit dem Chefredakteur des „Berliner Tageblatt“ Theodor Wolff, am Tisch, traf außer dem Ehepaar Paul Cassirer und Tilla Durieux sowie Victor Barnowsky noch den Chefredakteur der Berliner Tageszeitung „Der Tag“ Paul Marx, mit dem er gegen später das Café Roland (Brunnenstraße 181) [vgl. Berliner Adreßbuch 1914, Teil I, S. 417] aufsuchte: „Abendgesellschaft bei Dr. Elias Ich führe Frau Theodor Wolff zu Tisch. Nachher mit Marx im Roland von Berlin.“ [Tb] war ich also zum ersten Mal in Berlin mit Menschen
zusammen bei Dr. Elias. Frau Theodor Wolff war meine
Tischdame. Außer Cassirers und Barnowsky waren noch einige Leute von der Presse
da die ich kannte. Nachdem man sich getrennt, ging imSchreibversehen, statt: ich. mit dem Chefredakteur „des
„Tag“ noch in ein Café und das war das erste interessante Gespräch, das ich in Berlin
hatte. Marx übrigens ein guter Freund von Halbe gab mir direkt einen Auftrag an
HardenWelcher Auftrag von Paul Marx auszurichten war, ist nicht ermittelt; möglicherweise ging es um einen erwünschten Beitrag Hardens für den „Tag“ (die Zeitung, in der Alfred Kerr seinen Kollegen Maximilian Harden so oft verunglimpft hatte), da der Chefredakteur Paul Marx sich schon länger wünschte, Harden als regelmäßigen Mitarbeiter des „Tag“ zu gewinnen [vgl. Martin 1996, S. 109f.]. Wedekind hat den Auftrag mündlich ausgerichtet und kam darauf zurück [vgl. Wedekind an Maximilian Harden, 7.2.1914]., den ich, wenn ich Harden zu sehn bekomme, sehr gerne ausrichten werde. Am
Nachmittag hatte ich Harden angerufen, | er meinte aber, es sei besser, wenn
wir uns an einem anderen Tag sprächen, da wir Sonntag Nachmittag nicht allein
sein würden. Am nächsten Morgen probierten wir die drei Akte durchProbe für die anstehende Uraufführung von „Simson“ am Berliner Lessingtheater, wie Wedekind am 19.1.1914 notierte: „Probe, nach der Barnowsky mich bittet Og von Basan zu spielen.“ [Tb]. Barnowsky saß
mit seinen Getreuen im Parket. Als es vorbei war erklärte er rund heraus, daß
Rottmann unmöglich für Berlin sei, dagegen werde er einen um so besseren JeturAlexander Rottmann spielte in der Uraufführung von „Simson“ am 24.1.1914 im Berliner Lessingtheater nicht die Rolle des Jetor, sondern doch die des Og von Basan.
spielen. Ob ich den Og von Basan spielen wolle, er müsse das Stück sonst, da Steinrück
auch nicht zu haben sei, verschieben. Ich setzte großen Zweifel darein, ob ich
die Rolle lernen könne. Die Probe Die Premiere ist auf Samstag den 24
festgesetzt. So habe ich gestern den ganzen Abend gelerntWedekind notierte am 19.1.1914: „Lerne zu Hause und im neuen Stallmann an Og von Basan.“ [Tb] und jetzt 4 Tage
anstrengende Arbeit vor mir. | Soweit hatte ich vor zwei Stunden geschrieben als Dr. Heine kamWedekind notierte am 20.1.1914: „Besuch von Dr. Heine“ [Tb], Carl Heine, Regisseur und Gatte von Beate Heine., dessen Frau in folge
eines Todesfalles an einem schweren Nervenchock zu
Bett liegt und noch längere Zeit liegen muß. Heine rät mir dringend davon ab
die Rolle zu spielen, hauptsächlich der Presse wegen. Er gab mir den Rat
Kayßler nach seiner Ansicht zu fragen, der als Vertreter der Hauptrolle am
besten wissen müsse, ob Rottmanns Darstellung des Og wirklich so gefährlich wäre. Ich werde Kayßler heute noch aufsuchenWedekind suchte Friedrich Kayßler, den Darsteller der Titelrolle in „Simson“, noch am 20.1.1914 auf: „Unterredung mit Kaysler“ [Tb]; nach diesem Gespräch schrieb er an den Direktor des Lessingtheaters [vgl. Wedekind an Victor Barnowsky, 20.1.1914]..
Nun, geliebte Tilly, die Frage, ob Du zur Premiere kommen willst.
Ich weiß nicht ob es wirklich ein Vergnügen für Dich wäre, | mich mit Anderen
Theater spielen zu sehen. Wenn Du kommen willst, so sende ich Dir in
inliegendem Check M. 300,–₰, damit es Dir jedenfalls nicht an Geld fehlt.
Wenn ich nicht spiele dann habe ich ja in den nächsten Tagen auch sehr
wenig mehr zu thun und dann würde es mich sehr freuen,
wenn Du kämst. Dann könnten wir auch die Halbepremieredie auf den 23.1.1914 angesetzte Berliner Premiere von Max Halbes Stück „Freiheit. Ein Schauspiel von 1812“ in den Kammerspielen des Deutschen Theaters, die aber „wegen Erkrankung eines Hauptdarstellers [...] verschoben“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 38, 23.1.1914, Abend-Ausgabe, S. 7] wurde und erst am 28.4.1914 stattfand. besuchen, wohin ich
natürlich nicht gehe, wenn ich zu thun habe. Heute Mittag telegraphierte ich
Dirvgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 20.1.1914 (Telegramm). wegen des Schminkkastens. Ich wäre Dir dankbar, wenn Du ihn umgehend schicken
wolltest, am bestens ins Hotel, damit ich auch sicher bin, daß er
angekommen ist. Für Deine beiden lieben Briefevgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 18.1.1914 und 19.1.1914 (beide Briefe auf Briefkarten geschrieben). sage ich Dir herzlichsten Dank.
Wie kannst Du denken, daß sie mir keine Freude wären. Ich schreibe Dir ja genau
so viel, wenn Du mir täglich schreibst, so habe ich | doch immer die
Beruhigung, daß es Euch an nichts fehlt. Anna Pamelas Brief nicht überlieferte Briefkarte; erschlossenes Korrespondenzstück: Pamela Wedekind an Frank Wedekind, 18.1.1914.war mir eine große
Freude.
Nun leb wohl, meine geliebte Tilly. Grüße und küsse die Kinder
von mir. Mit herzlichstem Gruß und Kuß
Dein
Frank.
Inliegend ein Checkder erwähnte Scheck über 300 Mark.
HOTEL HABSBURGER HOF
FRITZ OTTO, Hoflieferant.
Fernsprech-Anschlüsse:
Amt Lützow, 1663 Hotel
4077
5442 Restaur.
Personen-Fahrstuhl
Tag und Nacht im Betrieb.
Berlin S.W.
11, den 191
Askanischer Platz 1.