Schloß
Lenzburg 3.IX.81.
Lieber Oskar
Nicht finde ich Worte, mein Entzücken auszudrücken, welches
mein geduldiges Herz über Deinen
lieben Briefvgl. Oskar Schibler an Wedekind, 2.9.1881. empfand. Aber leider muß ich ich noch immer, trotz
meiner allmähligen Besserung, das Bett hütenWedekind war Mitte August 1881 an einer Rippenfellentzündung erkrankt und lag seitdem im Bett. und so wirst Du wohl auch heute wieder meine Bleistift-SchriftHinweis auf ein nicht überliefertes Korrespondenzstück; Wedekind an Oskar Schibler, 29.8.1881 – den letzten überlieferten Brief hatte Wedekind – noch vor seiner Erkrankung – mit Tinte geschrieben [vgl. Wedekind an Oskar Schibler, 23.7.1881]. entschuldigen. –
Du wirst begreifen, daß ich Dir aus Meine meiner Einsamkeit nicht viel
Neues mittheilen kann, denn selbst das Seele/n/leben ist in di
steht bei derartiger Langweile still. Da Der Doctorvermutlich Dr. Jakob Bertschi aus Dürrenäsch, Direktor der Strafanstalt und Arzt in Lenzburg; er praktizierte seit den 1860er Jahren in Lenzburg, wo er sich 1877/78 in der nördlichen Vorstadt (Poststrasse 13) ein spätklassizistisches Haus erbauen ließ. – Im 4 Kilometer entfernten Lenzburger Ortsteil Seon hatte der Arzt Dr. Joseph Martin Kuhn Wohnung und Praxis. hat mich an der Brust angestochendas Absaugen der angesammelten Flüssigkeit gehört zur üblichen Behandlung einer Rippenfellentzündung mit größerem Pleuraerguss. und wollte mich
auspumpen; Leider aber ohne Erfolg. Nun muß ich warten bis sich die Natur
selbst geholfen hat. – Also die
Musenin der griech. Mythologie die Schutzgöttinnen der Künste; hier: das neueröffnete Sommertheater in der Militärkantine im Aarauer Ortsteil Schachen. haben sich in dem prosaischen Aarau niedergelassen, das freut mich ungemein,
denn ich kenne Deine Liebe für Musen. Aber f vor der ersten Liebhaberin nimm
Dich in Acht, denn Deine von Xnicht ermittelt. könnte sich tödtlich beleidigt fühlen.
Bedenke doch, eine Comödiantin!!! |
Wie geht es Marta Fleinerviertes von fünf Kindern des 1877 verstorbenen Aarauer Zementfabrikanten Albert Fleiner und der Leontine Zschokke-Fleiner. Die Familie wohnte in Aarau in der Laurenzenvorstadt (Nrn. 586-588), zwischen der Kantonsschule Aarau (Nr. 585) und der Aargauischen Kaserne (Nr. 589) [vgl. Verzeichniss sämmtlicher Einwohner, Wohn- und Oekonomie-Gebäude der Gemeinde Aarau S. 29]. 1887 heiratete sie den 25 Jahre älteren Maler Hermann Hunziker. In einem Lebenslauf heißt es: „Martha wächst im fröhlichen Kreis der Geschwister Fanny, Albert, Hans und Fritz an der Laurenzenvorstadt 28 in Aarau auf. Mit 22 Jahren heiratet sie Hermann Hunziker, ein hochgebildeter, musisch veranlagter Mann, der sich nach Aufgabe seiner Fabrik ganz dem Malen hingibt. Die lebhafte junge Frau ist für Kunst und Musik sehr aufgeschlossen. Man liest Dramen mit verteilten Rollen, spielt 4 und 8händig Klavier. Reges gesellschaftliches Leben. Am 29. Juni 1894 werden Zwillingssöhne geboren. Diese erhalten schon früh künstlerische Anregung und Impulse. Mutter und Söhne sind leidenschaftliche Reiter. Martha arbeitet während dem 1. Krieg in Genf an der „Agence des Prisonniers“ (Croix Rouge). Allzu früh wird Martha Witwe (1910), führt aber weiterhin ein offenes Haus, 1918-1939 auf dem Distelberg bei Aarau, später am Rain in Aarau. [Else Rath-Höring u. Karl Fleiner: Fleiner. Neustadt a.d. Aisch 1961 zitiert nach https://www.wikitree.com/photo.php/3/3a/Fleiner-48.jpg, abgerufen 31.10.2022].?
– Das gute Kind ist mir jüngst in meiner Krankheit wieder im Traum erschienen:
Stolz gien/n/g sie an mir vorüber, als ich gerade aus dem HolzachDie um 1860 von dem Bierbrauer Dietrich Holzach gegründete Brauerei und Gastwirtschaft war eines der Aarauer Stammlokale, die von den Kantonsschülern regelmäßig zu Verbindungs- und Klassenkneipen aufgesucht wurden. trat, wo ich einige Großeauch Schoppen Bier, das Glas (in der Schweiz) zu 0,375 Liter. vertilgt hatte.
„Martha, darf ich Dir meinen Arm anbieten“? sprach ich, und lehnte mich an den
Laternenpfeiler, denn ich bedurfte einer Stütze. Ein Blick, der mich beinahe zu
Boden schleuderte, war ihre Antwort. Sie ging weiter und bald kam Schäfervermutlich Georg Schäfer, der, mit Wedekind gleich alt, im Schuljahr 1879/80 die I. Klasse und im Schuljahr 1880/81 die II. Klasse des Progymnasiums der Kantonsschule Aarau besucht hatte, letztere zusammen mit dem jüngeren Bruder von Wedekinds Freund Walter Laué., der sie auf ihrem Wege
begleitete. „
„Marta, Marta, gleite nicht aus auf dem schlüpfrigen Wege!!“
sprach ich bei mir und hielt mich fester an der Laterne. Bald aber ging ich
trüben Sinnes von hinnen. –
Prosit FuxmajorOskar Schibler Hoffnung, bei den Vereinswahlen des Kantonsschülerturnvereins (KTV Aarau) am 3.9.1881 zum Fuxmajor gewählt zu werden, erfüllten sich. Der Fuxmajor hatte die Aufgabe, die als Füxe bezeichneten neuen Mitglieder in einer wöchentlich abzuhaltenden Fuxenstunde in den Regularien der Verbindung und speziell der Kneipe zu unterrichten.!!! Ich hoffe gratuliren zu dürfen. Nun magst Du
Dich üben an Deinen Füxen, damit Du später einst Kinder erziehen kannst! –
Nun Deine Poesien: Die erste, die Becher-PoesieGemeint sein dürfte Oskar Schiblers Gedicht „Menschlicher Trost“ vom 27.8.1881, das mit den Versen beginnt: „Im Becher da ruht das Glück der Erde / In ihm ist Seligkeit allein / Drum sprach der Schöpfer auch ‚Es werde‘! / Du sollst des Menschen Tröster sein.“ [Aa, Wedekind-Archiv B, Schachtel 13, Mappe 6, Slg. Oskar Schibler, Schulheft, S. 3r]. gefiel mir
nicht ausnehmend (Ich bin offenherzig) sei es, weil ich gewöhnlich aus Gläsern
trinke, sei es weil der Cyniker Diogenes, der
GlücklicheDiogenes von Sinope lebte nach dem Prinzip, dass nur der glücklich sein könne, der selbstgenügsam, bedürfnislos und unabhängig von Konventionen handle. Nach einer Anekdote soll er seinen Trinkbecher weggeworfen haben, nachdem er Kinder aus den Händen trinken sah. unter den Menschen, seinen Becher w/f/ortschleuderte
und noch glücklicher ward. | Nun das „Lied an die Kneipenicht ermittelt.“. Ich hatte es eben
gelesen, da verfiel ich wieder in einen fieberhaften Schlaf – Da saßen
wir wieder um den runden Tisch. Alle die frohen Gesichter. Auch Oberli war noch dabeiFranz Oberle war am 9.7.1881 tödlich verunglückt [vgl. Wedekind an Adolf Vögtlin, 10.7.1881. – Wedekind hatte den ehemaligen Mitschüler, der im Schuljahr 1881/82 die IV. Klasse der Gewerbeschule an der Kantonsschule Aarau besuchte und im Herbst die Matura ablegen sollte, in zwei Gedichten „Nacht ists, die Stürme brausen sehre“ (12.1880) [vgl. KSA 1/II, S. 1912] und „Was ist das für Gesang und Schall“ [vgl. KSA 1/II, S. 2157] verewigt.. Golden glänzte
das Bier in den majestätischen t/T/öpfen. Lechzend goß ich es die
brennende ++ Kehle hinunter. Ach, wie das labte! Wie urgemüthlich es mir
vom Glase die Hosen herabträufels/t/e! –G Alles ganz so, wie einstmals!
– Da saSchreibversehen, statt: sah. ich den Schaum
im Glase vergehn. „Träume sind
Schäume“ dachtʼ
ich und nun tratest d/D/u zu mir. „Franklin, sprachst Du, wir müssen scheiden. Leb
wohl!“ – „Leb wohl, Oskar!,“ sprach ich, und Du drücktest mir die Hand, und d/D/u
schütteltest sie und drücktest sie noch einmal und warst verschwunden und alles
war verschwunden u. ich au war aufgeweicht. Vor mir stand meine Mamma mit einem
Löffel voll Jodkalium, den ich alsbald hinunterwürgte. D – Dies war ein
trauriger Tausch, aber Träume sind SchäumeTräume sind bedeutungslos, nichtig – sprichwörtliche Redensart..
Nun leb wohl, lieber Oskar. Schreibe bald wieder in meine
Einsamkeit. Armin
läßt Dich freundlichst grüßen und ebenso Dich und Deine werthen ElternOskar Schiblers leiblicher Vater (Jakob Schibler) war 1872 verstorben, die Mutter (Wilhelmine Franke, verwitwete Schibler) heiratete in zweiter Ehe den Gerichtsschreiber Joseph Keller. u Geschwister Dein Dich
innigst liebender Franklin.