Sonntag, 16 Apr. 05.
Mein lieber süßer Frank!
Ich habe heute wieder so schreckliche Sehnsucht nach Dir,
daß ich in einem fort an Dich denke und nun wenigstens schreiben muß. Du machst natürlich Dein
allermoquantestesmoquant (frz.) = spöttisch, spottlustig. Gesicht und denkst: „wie kann man so verliebt sein, wenn man
schon so altAnna von Seidlitz war zu diesem Zeitpunkt 37 Jahre alt. ist! Und was soll ich damit? Ja wärst du ein junges Mädchen von 18 Jahren – !“ so sagst
Du, aber ich hör es zum Glück nicht, und wenn auch – ich tröste | mich mit der
Sonne, die ist schon so uralt und strahlt doch noch ungehindert ihre Liebe auf
uns herunter, und man freut sich wenn sie scheint, die alte Gevatterin, auch
wenn man nicht nach ihren Strahlen verlangt hat. Ich will mir ein Beispiel
daran nehmen und Dir meine Liebe mitteilen, auch wenn Du nicht danach fragst;
vielleicht wärmt sie Dich doch etwas wenn Du gerade einmal e/so/twas wie Frost verspürst.
Eins macht mir nur großen Kummer, nämlich daß ich immer
wieder durch irgend ein unbedachtes | Wort Dich verletze; Du zahlst es mir dann
mit Zinsen heim und ich fühle mich tief beleidigt. Wenn ich dann ruhig nachdenke sehe
ich ja meistens ein, daß ich selbst die Veranlassung dazu war. Dennoch glaube
mir, daß Du von allen Menschen auf der Welt mir der liebste bist, ja Du bist
überhaupt der Einzige! So war es von anfang an, und so wird es auch bleiben.
Ich bin augenblicklich in Irschenhausen, ganz allein in
meinem HäuschenAnna von Seidlitz besaß in Irschenhausen, 20 Kilometer südlich von München, ein Bauernhaus, das sie zu dieser Zeit auch regelmäßig zur Vermietung anbot: „Bauernhaus in Irschenhausen bei Ebenhausen – Isartal – möbliert zu vermieten. 6 Zimmer, 2 Ateliers, event. geteilt. Lage dicht beim Walde, Aussicht in das Gebirge. Auskunft dortselbst b. Schmied oder Theatinerstraße 45/1, Leseinstitut. Tel. 3573.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 58, Nr. 179, 15.4.1905, General-Anzeiger, S. 2]. Es ist himmlisch ruhig. Ich schreibe beim Schein einer
primitiven Kerze, draußen ist | es aber noch halbhell und ich sehe die Nebel
aus dem Isarthal steigen, sie rücken langsam näher. – Warum darf ich nie
bei Dir sein? Selbst wenn ich in Deiner Wohnung, in Deinem Bette bin, liegen
die Worte zwischen uns wie Schwerter. Nur einmal war Alles weggeräumt,
in einer Nacht, vor 14 TagenAm 3.4.1905 notierte Wedekind in hebräischer Schrift im Tagebuch: „Anna v. Seidlitz“; am 8.4.1900: „Anna schläft bei mir.“ Vermutlich ist das erste Datum gemeint. etwa, an die werde ich mein Leben lang denken. Da
war ich zum ersten mal nicht einsam. Jetzt bin ich wieder ganz einsam, und so
will ich auch sein, wenn ich ohne Dich leben muß. – Lieber Schatz, dies ist ein blödsinniger Brief, ich sitze
und weine mein Taschentuch voll und bin melancholisch über Etwas das sich | nicht
ändern läßt, also warum ich das Alles Dir mitteilen muß, der Du den Kopf voll
ganz anderer Sachen hast, das ist mir selbst unverständlich. – Oder nein, jetzt fällt
mir ein warum ich Dir schrieb, ich wollte Dir sagen daß ich Dich liebe, süßer
Frank, daß ich dich ganz schrecklich lieb habe, daß ich die Tage zähle bis ich
Dich wieder sehnWedekind war am 13.4.1905 zu einem „Hidalla“-Gastspiel nach Stuttgart abgereist: „Packe meine Koffer. Anna zieht ab. Treffe Ressner. Er begleitet mich auf den Bahnhof. Fahre nach Stuttgart.“ [Tb] Das nächste Treffen mit Anna von Seidlitz ist am Tag seiner Rückkehr am 19.4.1905: „4.40 nach München zurück. […] Wittelsbacher Garten mit Langheinrich. Torgelstube mit Anna, Dreßler und Langheinrich.“ [Tb] darf. Das weißt Du zwar schon, aber hier hast Dus wieder
schwarz auf weiß. Ich küß Deinen lieben Kopf in Gedanken tausend mal, aber weil Du dabei ganz garstig
bleibst, kriegst Du einen Klaps: Scheusal! – Ich bete Dich an, mein Lieb! Deine
Anna