Lieber Frank!
Ich bin schrecklich unglücklich über gesternder Datierungshypothese zufolge Samstag, der 3.12.1904, an dem Wedekind im Tagebuch notierte: „Abends mit Reßner Anna v. S. Langheinrich e.ct. im Hoftheaterrestaurant.“ , und ich kann
Dich immer nur bitten, mein Betragen als eine momentane Geistesgestörtheit zu
betrachten. Es geht mir wie Ragnadie weibliche Hauptfigur in Bjørnstjerne Bjørnsons Schauspiel „Dagland“, das 1904 (vordatiert auf 1905) im Albert Langen Verlag auf Deutsch erschienen war und am Münchner Schauspielhaus am 1.11.1904 seine Uraufführung hatte. Wedekind hatte das Stück am 14.10.1904 gelesen [vgl. Tb]. Das Zitat stammt aus der 4. Szene des 1. Aktes, wo Ragna zu ihrer Mutter sagt: „Dich liebe ich am meisten von allen auf Erden. Und so oft ich dir nahe komme, tu ich dir weh.“ [Bjørnstjerne Bjørnson: Dagland. München 1905, S. 33] im Dagland: „Dich lieb ich am meisten von allen auf Erden, und so
oft ich Dir nahe komme, tu ich Dir weh.“ |
Also ist es wohl am besten, ich komm Dir nicht mehr nahe.
Ich kann Dich ja auch von weitem unglücklich lieben, im Gegenteil, noch viel
besser, denn würdest Du jemals die Geduld mit mir verlieren – wie es klugen
Menschen dummen gegenüber ja leicht geschehen kann – und würdest Du durch mich
veranlaßt, brutal zu | werden, so wäre die ganze schöne Liebe beim Teufel. Dem
möchte ich mich um Gottes willen nicht aussetzen, denn sie ist mir der größte
und ein bis jetzt ganz unbekannter Genuß. Bitte sei nicht böse, ich kann
wirklich nichts dafür, daß es so ist. Ich kann Dir nicht einmal den Gefallen
thun, Dir untreu zu werden, ich weiß Du würdest Dich darüber freuen, aber ich
bring es nicht zustande. Ich kann Dir nur das Eine | versprechen: Dich nicht
mehr in irgend einer Weise zu belästigen. – Sollte es ein kleiner FrankAnna von Seidlitz hatte Wedekind am 19.11.1904 davon unterrichtet, dass sie von ihm schwanger war: „Anna theilt mir mit daß sie guter Hoffnung ist.“ [Tb] werden,
so teile ich es Dir s. Zt.seinerzeit (österr.): zu gegebener Zeit. mit, vielleicht interessirt es Dich doch etwas. – Ich hoffe
jedoch, daß dieser Kelch an mir vorübergehen wirdvon etwas bevorstehend Schlechtem verschont bleiben; in Anspielung auf Jesu Gebet im Garten Gethsemane (Markus 14,36: „Abba, mein Vater, es ist dir alles möglich; überhebe mich dieses Kelchs“ bzw. Matthäus 26,39: „Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch von mir“)., und was ich dazu thun kann,
soll geschehen,
Ich bitte Dich so sehr ich kann, sprich mich nie mehr an,
auch auf die Gefahr hin, unhöflich zu erscheinen. Ich kann das Katz- und Mausspielen nicht mehr
ertragen. Und bitte sei mir wegen gestern nicht böse, die ewigen grundlosen
Neckereien haben mich ganz wahnsinnig gemacht.
Mit freundlichem
Gruß Deine aufrichtige Freundin A.