München,
1 Nov. 04.
Mein
süßer, angebeteter Frank!
Wenn
Dir diese Anrede übertrieben erscheinen sollte, so entschuldige mich bitte
damit, daß ich immer noch im Rausch bin, den Deine Liebe, Dein Sekt und Deine
Persönlichkeit in mir hervorgerufen. Lach mich nicht aus, wenn ich Dir sage,
daß ich Dich liebe, und gönne mir diesen | süßen Wahnsinn, den man so selten im
Leben empfindet. Mein ganzes Dasein möchte ich in Deine Hände legen, und wenn
Du mir nur erlaubst,
für Dich Thee zu kochenDen Tag vor seiner Abreise nach Dresden und Breslau verbrachte Wedekind mit Anna von Seidlitz: „Anna kommt und bereitet Frühstück. Langheinrich kommt. Wir bleiben den ganzen Tag beisammen. Dinieren in der Odeonsbar, gehen durch den englischen Garten zu mir, Anna kocht Thee. Wir supieren im Parkhotel. 10. Uhr 10 Abfahrt nach Dresden.“ [Tb, 29.10.1904] und Deinen Koffer zu packen, so dünkt mich das eine
wonnige Beschäftigung. Solange Du Freude an mir findest, werde ich mich für die
glücklichste Frau der Welt halten, und später werde ich mir sagen: |„ich besaß
es doch einmal, was so köstlich ist!“Zitat aus Johann Wolfgang Goethes Gedicht „An den Mond“ (1789): „Ich besaß es doch einmal, / Was so köstlich ist!“ [Johann Wolfgang Goethe: Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Bd. 1. Weimar 1887, S. 100] – und werde zufrieden sein. Glaube mir
bitte, daß ich mich noch nie einem Manne so hingegeben habe, wie ich es Dir gegenüber mit diesem Briefe thue;
ich kann Dir nicht die Erstlinge„die von vielen alten Völkern der Gottheit aus Dankbarkeit für ihre Gaben dargebrachten ersten und besten Erzeugnisse der Bodenkultur“ [Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 6. Leipzig 1906, S. 78]; hier im übertragenen Sinne für Jungfernschaft und erste große Liebe. meines Körpers bringen, die Erstlinge meiner
Seele gehören Dir, Dir ganz allein.
Mein
Süßer, Geliebter, Du wirst mir unmöglich in der gleichen Stimmung antworten
können, aber ant|worte mir nur überhaupt! Teile mir mit ob Du es gut hast, wie
Du wohnstWedekind war am 31.10.1904 frühmorgens in Breslau angekommen und hatte sich ein Zimmer in Riegner’s Hotel (Königstraße 4), genommen: „Komme um 6 Uhr in Breslau an. Durchschlendre bis 9 Uhr die Stadt, nehme Wohnung in Riegners Hotel.“ [Tb], ob Du Nichts vergessen hast, und wenn ja, was ich Dir nachschicken
darf. Ich kenne ja nun alle Deine Sachen und stehe in einem intimen Freundschaftsverhältnis
zu jedem Deiner Strümpfe. Sehr gespannt bin ich was Du heute AbendDer 1.11.1904 war der erste Tag von Wedekinds Gastspiel als Bänkelsänger in Liebichs Etablissement (Direktion: Hugo Wandelt), einem bekannten Varieté-Theater in Breslau (Gartenstraße 53/55). Wedekind notierte im Tagebuch: „Durchgefallen.“ Das ursprünglich für einen Monat geplante Gastspiel endete vorzeitig am 6.11.1904, an dem Wedekind nochmals notierte: „Durchgefallen.“ Die Presse schrieb: „Aus Breslau wird gemeldet: Frank Wedekind hat mit seinem Versuch, sich dem Varieté zuzuwenden, Fiasko gemacht. Sein Auftreten in Liebichs Etablissement begegnete so entschiedener Opposition, daß er seinen Vertrag nach sechs Tagen lösen mußte und Breslau bereits verlassen hat.“ [Neue Freie Presse, Nr. 14444, 9.11.1904, Abendblatt, S. 1] für Eindruck
machst. Ich weiß noch nicht, ob ich heute Abend in DaglandBjørnstjerne Bjørnsons Schauspiel „Dagland“ hatte am 1.11.1904 im Münchner Schauspielhaus Premiere, Beginn 19.30 Uhr [vgl. Allgemeine Zeitung, Jg. 107, Nr. 500, 2.11.1904, S. 8]. Wedekind las das neu erschienene Stück [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 242, 17.10.1904, S. 8903] am 14.10.1904: „Dagland von Björnson gelesen.“ [Tb] gehe, wenn auch so
werde ich mehr in Breslau sein. – Ich zähle die Tage bis Du wiederkommstWedekind kehrte am 12.11.1904 zurück nach München [vgl. Tb]. und küsse Dich
tausendmal! Wahrscheinlich werde ich Dir sehr bald wieder schreiben! In treuer
Liebe Deine
Anna