Sehr geehrter Herr
EngelFritz Engel in Berlin (Neue Ansbacher Straße 17), Literatur- und Theaterkritiker, war Redakteur des „Berliner Tageblatt“ [vgl. Berliner Adreßbuch 1910, Teil I, S. 553], verantwortlich für das Feuilleton und die Beilage „Der Zeitgeist“ [vgl. Kürschners Deutscher Literatur-Kalender auf das Jahr 1911, Sp. 374]. Wedekind hatte mit ihm eine heftige Auseinandersetzung gehabt (siehe Wedekinds Korrespondenz mit dem „Berliner Tageblatt“ 1909/10), die zu Jahresbeginn durch eine Aussprache beigelegt worden war, am 5.2.1910: „Ich fahre zum Berliner Tageblatt. Theodor Wolff empfängt mich sehr liebenswürdig. Unterredung mit Fritz Engel.“ [Tb]!
Empfangen Sie meinen
ergebensten Dank für Ihre Mittheilungnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Fritz Engel an Wedekind, 13.7.1910. Fritz Strich war der heute verschollene Brief offenbar bekannt. Er fasste den Inhalt in einer Anmerkung zum vorliegenden Brief folgendermaßen zusammen: „Engel hatte sich brieflich beklagt, dass Wedekind in seiner Schrift ‚Schauspielkunst‘ eine Kritik Engels über Herbert Eulenberg unrichtig wiedergegeben habe, und gebeten, dies in einer zweiten Auflage richtig zu stellen.“ [GB 2, S. 368]. Selbstverständlich werde ich meinen
Irrtum so bald und so klar, wie es möglich sein wird, richtig
stellen. Zu meiner Entschuldigung mag gelten, daß mir Ihre BesprechungFritz Engel hatte die Premiere von Herbert Eulenbergs Lustspiel „Der natürliche Vater“ am 21.1.1910 in den Kammerspielen des Deutschen Theaters besprochen [vgl. F.E.: Kammerspiele. Zum ersten Male: „Der natürliche Vater“, ein bürgerliches Lustspiel in fünf Akten von Herbert Eulenberg. In: Berliner Tageblatt, Jg. 39, Nr. 38, 22.1.1910, Morgen-Ausgabe, S. (2)]. über
Natürliche Vater damals entgangen war. Die betreffende WendungWedekind war im Abschnitt „Hinrichtungen“ seiner Broschüre „Schauspielkunst“ (1910) auf die Inszenierung von Herbert Eulenbergs Lustspiel „Der natürliche Vater“ (1909) zu sprechen gekommen. Er meinte, man habe das Stück „in Berlin aufs Rad geflochten“ und wem diese Einschätzung zu drastisch erscheine, der habe „sich bei der Kritik dafür zu bedanken. Die Kritik schrieb: Eulenberg, bis jetzt eine Hoffnung, ist eine ‚Verzweiflung‘ geworden.“ [KSA 5/II, S. 373] Fritz Engel hatte zum Auftakt seiner Besprechung geschrieben: „Das neue Stück von Eulenberg ist abgelehnt worden. Eulenberg […] war einmal eine Hoffnung. Es wird nun Stimmen geben, die sagen, daß er eine Verzweiflung sei“; auch wenn er einige Qualitäten gelten lasse, dann „gibt es immer nur einen mildernden Umstand. Noch keine Verzweiflung, aber heftige Enttäuschung.“ [F.E.: Kammerspiele. Zum ersten Male: „Der natürliche Vater“, ein bürgerliches Lustspiel in fünf Akten von Herbert Eulenberg. In: Berliner Tageblatt, Jg. 39, Nr. 38, 22.1.1910, Morgen-Ausgabe, S. (2)] kannte ich vom
Hörensagen und war durchaus nicht sicher, daß sie Ihrer Besprechung entstammte.
Mit umsogrößerem
Interesse habe ich Ihre Besprechung jetzt gelesenWedekind ist bei der Lektüre von Fritz Engels Besprechung auch auf seinen Namen gestoßen: „Eulenberg muß gesagt werden, daß es noch lange kein eigenes Gesicht gibt, wenn man sich aus den Masken des ganzen lebenden und toten Parnasses, aus den Romantikern und aus Wedekind und aus Shakespeare eine neue Maske zurechtschminkt.“ [F.E.: Kammerspiele. Zum ersten Male: „Der natürliche Vater“, ein bürgerliches Lustspiel in fünf Akten von Herbert Eulenberg. In: Berliner Tageblatt, Jg. 39, Nr. 38, 22.1.1910, Morgen-Ausgabe, S. (2)] | und sehe mit großer Freude, wie Sie ohne
Rücksicht auf die Darstellung in erster Linie das Buch gewürdigt haben. Vielleicht
fände sich doch einmal Gelegenheit, das Thema Eulenberg mündlich zu erörtern.
Für Ihre liebenswürdige
Aufnahme der Verbotenen Tänzedie Glosse „Verbotene Tänze“ [KSA 5/II, S. 382f.], ein Protest gegen das Aufführungsverbot von „Totentanz“ [vgl. KSA 5/III, S. 668, 687-689], dessen Abfassung Wedekind am 8.7.1910 notiert hatte: „Verbotene Tänze geschrieben.“ [Tb] Die Glosse wurde durch Vermittlung Fritz Engels im „Berliner Tageblatt“ ohne Verfasserangabe veröffentlicht [vgl. Verbotene Tänze. In: Berliner Tageblatt, Jg. 39, Nr. 349, 13.7.1910, Morgen-Ausgabe, S. (2-3)]. sage ich Ihnen meinen aufrichtigen herzlichen
Dank. In meiner Freude darüber übersandte ich Ihnen heute früh, bevor ich noch
Ihren Brief erhalten hatte, meinen neusten Einakter und möchte Sie nur
ersuchen, | darin nicht den Versuch
irgendwelcher Beeinflussung zu erblicken. Ich glaube Beweise genug gegeben zu
haben, daß ich auch den allerstärksten Tadel vertragen kann. Über den Verdacht,
einander an der freien Äußerung seiner Meinung hindern zu wollen, kann uns aber
wohl nur gegenseitige menschliche Achtung hinweghelfen.
In vorzüglicher Hochachtung
Ihr ergebenster
Frank Wedekind.
München 14.7.10.