Kartenbrief
An
Frau Tilly Wedekind
in München
Wohnung (Straße und Hausnummer) Prinzregentenstrasse
50 |
Geliebte Tilly! Ich habe die Nacht wenig geschlafenWedekind reiste am 31.1.1910 mit dem Nachtzug nach Berlin, um die in seinen Notizbüchern unter dem Stichwort „Contra Cassirer“ [vgl. KSA 5/III, S. 126-141] dokumentierten Streitigkeiten mit seinem Verleger Bruno Cassirer, der den Verkauf der Rechte an Wedekinds Werken verweigerte, persönlich zu klären: „Ich packe den ganzen Tag. Nehme Geld auf der Bank auf. Tilly begleitet mich zur Bahn. Abendessen. Schlaflose Fahrt.“ [Tb]. Hier
nahm ich ein BadWedekind notierte am 1.2.1910: „Wohne Habsburger Hof. Bad. Besuch bei Cassirer.“ [Tb] Wedekind hat die heftige Auseinandersetzung mit Bruno Cassirer am 1.2.1910 in dessen Verlagsräumen im Berliner Bezirk Tiergarten (Derfflingerstraße 16) in seinem Dialogfragment „Scene mit Cassirer“ [vgl. KSA 7/I, S. 564] szenisch gestaltet. im Habsburger Hof, frühstückte und ging dann zu Cassirer. Als
ich ihn zur Rede stellte, warum er die Fragen in meinen Briefen nicht
beantwortete, drohte er sofort, mich durch seine Leute hinauswerfen zu lassen
und hatte auch schon auf den elektrischen Knopf gedrückt, wenn ich recht gesehen habe. Darauf riß mir die Geduld. Ich versetzte ihm
ein paar Ohrfeigen. Er zog sich zur Thür zurück und zwei seiner Leute traten
ein. Er hetzte sie wie Hunde auf mich, aber es hat mich niemand angerührt. Ich
zog ruhig meinen Rock an und nahm Hut und Stock und ging. Darauf ging ich eine
Stunde im Thiergarten spazieren, schreibe Dir jetzt diese Karte und werde | dann
wohl mit Barnowsky sprechenWedekind notierte am 1.2.1910 (im Anschluss an seinen Besuch bei Bruno Cassirer): „Besuch bei Barnowsky“ [Tb]. Sein Gespräch mit Victor Barnowsky, Direktor des Kleinen Theaters in Berlin (Unter den Linden 44) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1910, S. 290], betraf die Inszenierung seines Schwanks „Der Liebestrank“ (1899), der zusammen mit dem Einakter „Die Zensur“ am 6.10.1910 am Kleinen Theater Premiere hatte (ein Gastspiel Wedekinds). wegen Liebestrank. Es ist natürlich nicht
ausgeschlossen, daß die Geschichte ganz anders als wie ich sie Dir hier erzählt
habe, in die Zeitung kommt. Ich halte es aber nicht für wahrscheinlich, daß
Cassirer die Zeitungen benachrichtigtBruno Cassirer hat sich mit der Sache nicht an die Presse gewandt. Der Verleger gab dann allerdings im weiteren Verlauf der Streitigkeiten mit seinem Autor am 10.3.1910 im „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“ eine Anzeige auf, in der er Wedekinds Werke zum Verkauf anbot [vgl. KSA 5/III, S. 752].. Ich werde vorderhand niemandem etwas
davon erzählenWedekind hat die heftige Auseinandersetzung mit Bruno Cassirer am 1.2.1910 in Berlin, bei der er sich zu Tätlichkeiten hinreissen ließ, später Maximilian Harden erzählt [vgl. Wedekind an Maximilian Harden, 25.4.1910], der bei den Streitigkeiten zu vermitteln suchte.. Wenn ein Brief von Cassirer kommt,
dann öffne ihn bitte und telegraphiere mir in wenigen Worten den Inhalt. Dann
schick den Brief auch sofort hierher, Habsburger Hof am Anhalter Bahnhof. Ich
werde Cassirer vorderhand meine Adresse nicht mittheilen, damit er nicht
glaubt, daß ich eine Unterredung mit ihm wünsche. Ich hoffe, geliebte Tilly, | daß
es Dir und Anapamela recht gut geht. Ich kann hier vorderhand nichts thun als
abwarten. Dir und Annapamela herzlichste Grüße und Küsse.
Dein Frank