HOTEL TEGETTHOFF, I., JOHANNESGASSE 23, WIEN.
TELEGRAMME:
TEGETTHOFFHOTEL, WIEN.
Geliebteste Tilly!
Herzlichsten Dank für Deine beiden lieben Briefevgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 20.5.1908 (Kartenbrief) und 21.5.1908 (Brief).. Es freut mich
ungemein, daß Du Dich soweit wohl fühlst. Ich glaube auch daß die freie Luft
und das herrliche Wetter Dir in Graz besser zustatten kommen als hier. Ich
selber freue mich, morgen Abend endlich fortzukommen. Ich bewohne ein kleines Zimmer
nach der Straße, so daß sich des Lärms wegen die/das/ Fenster nicht gut
öffnen läßt während ein immer geheizter Kamin der an der Wand hinauf läuft,
eine entsetzliche Hitze hervorläuftSchreibversehen, statt: hervorruft (vermutlich).. Ich schreibe das nicht weil ich mich nicht
darüber hinwegsetzen könnte, | aber Du denkst sonst vielleicht wieder daß ich
wie im Schlaraffenland lebe.
Gestern war ich also richtig bei Onkel DagobertWedekind war am 21.5.1908 bei Dagobert Engländer (Wien III, Dampfschiffstraße 4), dem Inspektor der Donau-Dampfschiffs-Gesellschaft und einer seiner Trauzeugen, mit dem er sich gut verstand, auf einer Feier, an der ansonsten ihm mehr oder weniger fremde Verwandte seiner Frau zugegen waren., es war sein
und seines Bruders Hochzeitstag. Ich war darauf gespannt gewesen, Professor
EngländerRichard Engländer, k. k. Professor für Maschinenbau an der Technischen Hochschule Wien, wie Dagobert Engländer ein Bruder von Tilly Wedekinds Mutter Mathilde Newes. näher kennen zu lernen. Ich
glaube aber, er ist ein großer Mies-Macher, wir kamen uns nicht einen Schritt
nah. Ich bitte dich aber, dieses/n/ Eindruck nicht weiterzuerzählen. Während
des ganzen Abends hatte ich das unbehagliche Gefühl, daß es nicht richtig sei,
daß Du nicht dabei wä/a/rst. Deshalb gab ich auch die Karteeine kollektiv auf der Familienfeier verfasste Bildpostkarte [vgl. Frank Wedekind, Mathilde Engländer, Dagobert Engländer, Karl Lillin, Laura Engländer, Richard Engländer, Stephanie Engländer an Tilly Wedekind, 21.5.1908]., die an Dich
geschrieben wurde gestern Abend nicht mehr auf. Jetzt werde ich sie mit diesem
Brief in den Kasten werfen. Den Schluß des AbendsWedekind hat am 21.5.1908 nicht notiert, was er abends unternahm. Er traf sich dem vorliegenden Brief zufolge zu späterer Stunde mit dem Musikkritiker und Theaterreferenten Robert Hirschfeld im Perschill (Wien I, Naglergasse 1), Restaurant und Pilsener Bierhaus „zum Kühfuß“ (Inhaber: Eduard Perschill), wo auch Josef Jarno zugegen war, Direktor des Theaters in der Josefstadt und des Lustspieltheaters [vgl. Neuer Theater-Almanach 1909, S. 652, 656]. | verbrachte ich mit Dr. Hirschfeld bei Perschill, wo
einem jetzt das gute Bier nach der Hitze des Tages vorzüglich schmeckt.
Ich gehe jetzt gleich auf in das Reisebüreau um mir für morgen Abend ein Bett zu bestellenim Nachtzug nach München vom 23. auf den 24.5.1908.. In
München will ich versuchen in dem neuen Hotel am Maximiliansplatz (gegenüber
Parkhotel) zu wohnen, da die andern Hotels jedenfallSchreibversehen, statt: jedenfalls. überfüllt sind. Ich weiß
augenblicklich den Namen nicht werde Dir aber sofort telegraphieren. Heute
AbendWedekind notierte am 22.5.1908 lediglich, nach der siebenten Vorstellung von „Frühlings Erwachen“ am Deutschen Volkstheater, seinem letzten Auftritt als vermummter Herr im Rahmen seines Wiener Gastspiels, sei er mit Wolfgang Quincke, der mit ihm gemeinsam die Regie bei der Inszenierung der Kindertragödie geführt hat, bei Perschill gewesen: „Frl. Erw. 7. Nachher mit Quinke bei Perschill.“ [Tb] Ob er sich zusätzlich noch bei Hartmann (Kärntnerring 10), einem anderen gern besuchten Wiener Restaurant, mit Anton Geiringer traf, Sekretär am Deutschen Volkstheater und für die Kassenverwaltung zuständig [vgl. Neuer Theater-Almanach 1909, S. 650], ist unklar. werde ich noch mit Jarno zusammentreffen, der gestern auch bei Perschill
war. Nach der Vorstellung bin ich voraussichtlich | mit Geiringer bei Hartmann.
Nun lebwohl, geliebte Tilly und thu alles was Du für Deine Gesundheit
thun kannst. Ich freue mich sehr, daß wir uns bald wieder in Berlin
zusammen sind, aber wie herrlich wäre es, wenn wir jetzt gleich
nach München in unsere Wohnung ziehenWedekind hat diese Wohnung dem Tagebuch zufolge zwar am 18.4.1908 bereits gemietet („Wohnung gemietet Prinzregentenstraße 50“), sie war aber noch nicht frei. könnten. Grüße und küsse Anna Pamela von
mir und sei innigst geküßt von Deinem
Frank.
HerlicheSchreibversehen, statt: Herzliche. Grüße an Papa und Mama und
unsere Lieben.
22.8/5/.8.