Sehr geehrter HerrErich Oesterheld, Verlagsbuchhändler in Berlin-Wilmersdorf (Aachener Straße 39), zusammen mit Siegbert Cohn Inhaber des Verlags Oesterheld & Co. in Berlin (Lietzenburger Straße 48) [vgl. Berliner Adreßbuch 1912, Teil I, S. 2198] und engagiert für den Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS) und sein Verbandsorgan „Der Schriftsteller“ – die „beiden ersten Jahrgänge erschienen im Verlag Erich Oesterheld und Co., der dem SDS auch sein erstes Büro zur Verfügung stellte.“ [Fischer 1980, Sp. 141]. „Geschäftsstelle“ des SDS war „Oesterheld & Co., Berlin“ [Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Jg. 79, Nr. 214, 13.9.1912, S. 10613].!
Wollen Sie mir erlauben,
beiliegenden AufsatzWedekind hat seinen Aufsatz „Die Macht der Presse“ [KSA 5/II, S. 463-465] – verfasst am 2.4.1912: „Schreibe Die Macht der Presse“ [Tb] – zuerst dem „Neuen Wiener Tagblatt“ angeboten [vgl. Wedekind an Neues Wiener Tagblatt, 3.4.1912], das die Veröffentlichung ablehnte [vgl. Neues Wiener Tagblatt an Wedekind, 5.4.1912]; er bot ihn dann mit dem vorliegenden Brief dem Verbandsorgan des SDS (siehe oben) an, das ihn publizierte [vgl. Frank Wedekind: Die Macht der Presse. In: Der Schriftsteller. Zeitschrift des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller, Jg. 2, Nr. 10, August/September 1912, S. 85-87]. Die Drucklegung besprach Wedekind allerdings nicht mit Erich Oesterheld, sondern mit Hans Landsberg [vgl. Wedekind an Hans Landsberg, 7.8.1912]. dem „
Schriftsteller“ zur Verfügung zu stellen. Sollten Sie keine Verwendung dafür haben, dann darf ich Sie wohl um möglichst umgehende Rücksendung ersuchen
Mit hochachtungsvollem Gruß
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
München,
Prinzregentenstraße 5030.12/7/.12. |
[Beilage:]
Die Macht der Pressevon
Frank Wedekind.
Meine geehrten Herrn Kollegen!
Das Reich Israel, dem die Welt die Hälfte ihrer moralischen Normen verdankt, wurde bekanntlich von seinen Schriftstellern regiert. Im alten Testament heißen sie Richter und Propheten, im neuen heißen sie Pharisäer und Schriftgelehrte. Eine Zeitlang regierte sogar eine Schriftstellerin namens
Deborahalttestamentarische Figur [vgl. Buch der Richter 4,4-24 und 5,1-31], die „Prophetin und Richterin Deborah, die ‚Mutter Israels‘, […] welche siegreich einen Feldzug beendet, worüber ihr berühmtes Siegeslied berichtet.“ [KSA 5/III, S. 258f.]. Von den Propheten mußten sich die gekrönten Häupter den Standpunkt klar machen lassen. Wenn man jene Zeiten mit den unseren vergleicht, dann dürfen wir nicht behaupten daß wir es in unserem Beruf gerade besonders weit | gebracht haben. Allerdings wäre
Lamartine einmal
beinahe Präsident von FrankreichAlphonse de Lamartine, französischer Schriftsteller, war nach Juli-Revolution 1830 „Abgeordneter im frz. Parlament und stieg nach der Februarrevolution 1848 zum Außenminister und Chef der Provisorischen Regierung der Zweiten Republik auf. Bei der Wahl zum Staatspräsidenten unterlag er jedoch Louis Napoléon Bonaparte.“ [KSA 5/III, S. 259] geworden und
Björnson konnte als
WeltberühmtheitBjörnstjerne Björnson, norwegischer Schriftsteller, Schwiegervater von Wedekinds langjährigem Verleger Albert Langen, Verfasser der norwegischen Nationalhymne, 1903 Literaturnobelpreisträger. „Politisch engagiert, setzte er sich für die nationale Selbständigkeit Norwegens sowie die Lösung sozialer Probleme seines Landes ein“ [KSA 5/III, S. 259]. dem König seines kleinen Heimatlandes unbequem werden. Aber was besagt das wenn man es Beispiels weise der unerschütterlichen Passivität und Einflußlosigkeit gegenüberhält, deren sich seit Jahrzehnten die größten Geister deutscher Stammesangehörigkeit erfreuen. Für mich besteht kein Zweifel darüber, daß wir uns im Lauf der Jahrhunderte die Musik sowohl wie die Malerei über den Kopf wachsen ließen. Unter uns steht nur noch die Tanzkunst und die Akrobatik. Ich habe oft darüber nachgedacht, was an diesem Niedergang die Schuld tragen mag.
Sind wir in unserem Beruf nicht vielleicht zu vornehm | geworden? – Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts schlugen in der Welt die Schriftsteller aufeinander ein wie zur Zeit des Faustrechts die Raubritter. Dafür gab es aber auch Schriftstellerfreundschaften und -Parteigängerschaften, die der Masse des Volkes Achtung abnötigten. Vor allem aber glaube ich, wenn ich unsere gesellschaftliche Stellung und Würdigung mit derjenigen der Musiker und der Maler vergleiche, wir verstehen uns nicht genügend darauf mit der Feder umzugehen, wir lassen die Macht der Presse außer acht. Wenn irgendwo einem Maler ein Bild oder einem Musiker eine Oper zurückgewiesen wird, dann greift sofort einer seiner Kollegen zur Feder und schreibt einen geharnischten Artikel in dem er
Max Liebermann oder
Richard Strauß als olympischen | Zeugen
zitiert beschwört. Widerfährt dieselbe Schmach einem Schriftsteller,
dann geht ein Engel durchs Zimmerdann herrscht Stille (Redewendung).. Der Schriftsteller schreibt gegen Schauspielerelend, gegen Malerelend, gegen Musikerelend. Und wird ihm selber elend, dann
entsinkt die Waffe seiner Hand und er sagt: sagt er: Es geschieht meinem Vater ganz recht, wenn ich mir die Finger abfriere. Warum kauft er mir keine Handschuhe!
Dazu kommt freilich noch etwas anderes, was im Lauf der letzten drei oder vier
DezenienSchreibversehen, statt: Dezennien. dazu beitrug, das Ansehen der Schriftstellerei in den Augen der Nation zu erschüttern. Das sind die guten Geschäfte, die einzelne auserwählte Glückskinder mit Bühnenstücken oder Romanen gemacht haben. Die Nation will ihre Märtyrer, ihre
r Gesinnungshelden haben, die für ihre Überzeugung leiden
d.h. hungern. und Die Nation glaubt ein Recht darauf zu haben, diese Märtyrer | unter ihren Schriftstellern zu finden. Aus alter Gewohnheit wird es
der ihr Nation Menschheit schwer, die Größe eines nichthungernden Schriftstellers für echt zu halten. Dabei glaubt
sie man täglich in Dramatik und Kritik einen, wenn er wirklich bestände, allerdings nicht erfreulichen Gegensatz von gewissenlosen Spekulanten und
neidischen M hämischen Moralisten vor sich zu sehen. An diesem Gegensatz, meine verehrten Herren, ist aber nur die Gesetzgebung schuld die uns
im Urheberrecht ein halbes, unfertiges Werk beschert hat. In dem Augenblick,
wo der Mitarbeiter einer Zeitung ebenso am Gewinn seines Blattes beteiligt ist, wie der Bühnenschriftsteller am Gewinn des Theaters, ist dieser häßliche Gegensatz
so im großen Ganzen aus der Welt geschafft. Allerdings müßte sich die Nation dann endgültig mit der Thatsache aus|söhnen, daß ein Schriftsteller überhaupt nicht die Verpflichtung hat, in erster Linie Hungerkünstler zu sein.
Der Weg, um zu diesem Ziele zu gelangen ist
bei durch d
er/ie/ tatsächliche
n Macht der Presse ein so einfacher, daß man sich bei
der ihrer umfassenden Organisation
der Presse nur wundern kann, daß er nicht längst eingeschlagen wurde. In jedem Zeitungskatalog ist von mindestens dreiviertel sämmtlicher aufgeführten Blätter die Abonnentenzahl angegeben. Diese Angaben sind völlig zuverlässig, denn wenn das Geschäft gebietet, sie möglichst hoch zu greifen so hindert das Gesetz über den Wettbewerb daß sie zu hoch gegriffen werden. Multipliziert man
n diese Abonnentenziffer mit dem Abonnementspreis und
das daraus gewonnene Produkt mit der durchschnittlichen Zeilenanzahl der/s/ | und dividiert das so gewonnene Produkt durch eine bestimmte Zahl die, einmal festgestellt für alle Fälle gleichbleibt, so erhält man das normale Zeilenhonorar für die in Frage kommende Zeitung. Dieses Normalhonorar
representiertSchreibversehen, statt: repräsentiert. dann den prozentualen Gewinnantheil des Autors a
m/n/
Ent Gewinn seines Blattes der Bruttoeinnahme seines Blattes.
Die Vorteile dieses Systems liegen auf der Hand. Der Schriftsteller braucht sich den Lohn seiner Arbeit nicht mehr bewilligen zu lassen, sondern er kann ihn im Voraus selber berechnen. Die Ehre, höhere Honorare zu bewilligen, bleibt natürlich keine
m/r/ Zeitung vorenthalten. Dagegen ist es dem Schriftsteller von
standesSchreibversehen, statt: Standes. wegen nicht | gestattet,
unter dem für seine Zeitung gültigen Preis zu arbeiten.
Die heikle Aufgabe, die
heilige Zahl zu berechnen, durch die bei sämmtlichen Blättern das Produkt aus Abonnentenziffer und Abonnementspreis
zu dividieren ist dividiert wird, wird von einer Kommission von Schriftstellern gelö
st/st/. Zur Einbürgerung des Systems
empfieltSchreibversehen, statt: empfiehlt. es sich, die Zahl zu Anfang nicht zu niedrig zu normieren. In dem Maße wie die Lebensmittelpreise und Wohnungsmieten steigen wird die heilige Zahl dann im Lauf der Jahre stetig sinken. In ihrem Tiefstand hat der Schriftsteller ein untrügliches lebendiges Zeichen für das Gedeihen und die hohe Bedeutung seines Berufes vor Augen. |
Der prinzipielle Unterschied in der Honorierung von Originalbeiträgen und Nachdrucken fällt damit fort. Sind doch auch am Theater bei Wiederholungen die gleichen Prozentsätze maßgebend wie bei Premieren. Nur der Abnehmerpreis der gebotenen Leistung kann die Einkünfte ihres Autors beeinflussen.
Ob durch dies System der Idealzustand wieder erobert wird, von dem zu Anfang die Rede war, möchte ich nicht näher erörtern. Sicherlich kann seine Einführung dem Journalismus nur Ehre und Unabhängigkeit einbringen. Auf den Einwand, daß ich mich von einer seichten Utopie | habe blenden lassen, von einer schillernden Theorie, die sich mit der Wirklichkeit nicht deckt, wäre zu entgegnen
:/,/ daß dann die Theorie eben so lange vervollkommnet werden muß, bis sie sich mit der Praxis in Einklang bringen läßt.
Das schwierigste an der Sache ist, daß es sich hier um die Interessen von Schriftstellern handelt, einem Beruf, dem M
a/ä/rtyrertum
und, Selbstlosigkeit und Objektivität als Alpha und
Ω Omega zur Pflicht gemacht wird. Aber wo die Macht ist, da ist das Recht, sagt ein gutes Sprichwort. Wird das erörterte System in der Theorie als richtig anerkannt und läßt es
si sich praktisch trotzdem nicht durchführen, dann ist es wol nur eine schöne Redewendung, wenn die Presse sich selbst als Großmacht bezeichnet.