GRAND HOTEL
LEINFELDER
MÜNCHEN
Lift . Electrisches Licht .
Centralheizung
Geliebte Tilly,
ich war heute Sonntag auf der Post in Erwartung etwas von
Dir zu finden, kam aber zu spät, das Postamt war um 12 Uhr geschlossen„Postlagernde Sendungen“ waren im Postamt München 1 (Residenzstraße 2) abzuholen: „Geöffnet an [...] Sonn- und Feiertagen von [...] 10‒12 Uhr Vorm.“ [Adreßbuch für München 1907, Teil III, S. 103] worden.
Es ist hier in München geradezu feenhaft schön, ich bitte Dich, das nicht als
Beleidigung aufzunehmen. Ich bin die drei Tage die ich hier bin ununterbrochen
spazieren gegangen und habe schon zwei Mal im WürmbadWedekind besuchte Ungerer’s Würmbad (Am Kanal 1), eine auch Ungererbad genannte private Badeanstalt (Inhaber: August Ungerer) [vgl. Adreßbuch für München 1907, Teil I, S. 581], wie er im Tagebuch am 20.7.1907 („Kurt Martens treffe ich im Ungererbad“) und 21.7.1907 („Ungererbad“) notierte. gebadet. Den ersten AbendWedekind war am 19.7.1907 mit seinem alten Freund Max Langheinrich zusammen, mit dem er die Schriftstellerin Margarete Beutler besuchte und dort offenbar den Schriftsteller und Verleger Waldemar Bonsels traf, und war dann mit ihm im Hofbräuhaus und in der American Bar des Hotels Vier Jahreszeiten: „Mit Langheinrich bei Margarete Beutler. Ich treffe Bonsels. Mit Langheinrich im Hofbräuhaus und der A. Bar.“ [Tb]
verbrachte ich mit Langheinrich. GesternWedekind notierte zu dem am 20.7.1907 mit Max Langheinrich, dessen Frau Anna Langheinrich und Anton Dreßler verbrachten Abend: „Mit Dreßler und Langheinrichs in Hofbräuhaus.“ [Tb] Mit Anton Dreßler war Wedekind seit 1896 befreundet [vgl. Martin 2018, S. 135-137]. Max Langheinrich und Anna von Seidlitz ‒ mit ihr hatte Wedekind 1904/05 eine Liebesbeziehung [vgl. Vinçon 2014, S. 169-172] ‒ hatten am 11.9.1905 geheiratet. war ich | mit Langheinrich, seiner
Frau und Dreßler zusammen. Die Begegnung mit Dreßler war sehr schwierig und
heikel, da es Dreßler in jeder Beziehung sehr schlecht geht. Er hat seine
Stellung an der Akademie verlorenDer in München lebende Tonkünstler, Konzertsänger und Gesangspädagoge Anton Dreßler (Thierschstraße 22) [vgl. Adreßbuch für München 1907, Teil I, S. 93], im Vorjahr noch als „Lehrer“ an der „Akademie der Tonkunst“ [Adreßbuch von München für das Jahr 1906, Teil I, S. 92] verzeichnet, war am 1.10.1906 „seiner Stellung als Gesangslehrer an der Akademie für Tonkunst“ [KSA 6, S. 746] enthoben worden. Die Presse hatte zunächst gemeldet: „Anton Dreßler hat wegen Arbeitsüberhäufung bei der Direktion der Akademie der Tonkunst ein Gesuch um Entlassung von seiner Lehrtätigkeit an dieser Anstalt eingereicht.“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 59, Nr. 434, 17.9.1906, S. 3] Dann hieß es: „Der Lehrer für Sologesang an der Akademie der Tonkunst in München Anton Dreßler wurde, seinem Ansuchen entsprechend, von seiner Lehrstelle enthoben.“ [Akademie der Tonkunst. In: Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 59, Nr. 451, 27.9.1906, Vorabendblatt, S. 2] Hintergrund war folgende Affäre: „Eine Schülerin des mit Wedekind befreundeten Gesangspädagogen Anton Dreßler war nach § 218 Reichstrafgesetzbuch verurteilt worden. Dreßler, der Vater ihres Kindes, verlor daraufhin seine Stelle an der Münchner Akademie für Tonkunst“ [Nottscheid 2008, S. 184]. Wedekind hat in seinem Stück „Musik“ (siehe unten) diesen „authentischen Fall verarbeitet“ [Martin 2018, S. 136]. und hatte das Stück noch nicht gelesenAnton Dreßler hatte Wedekinds „Musik. Sittengemälde in vier Bildern“ (in vier Folgen vom 26.6.1907 bis 19.7.1907 in der Zeitschrift „Morgen“ erschienen) noch nicht gelesen. „Vorlage für die Figur“ des Gesangspädagogen Josef Reißner (die männliche Hauptfigur in „Musik“) „war der Opernsänger und Gesangslehrer an der Münchner Akademie für Tonkunst Anton Dreßler“ [KSA 6, S. 746], der „getreulich im Stück porträtiert“ [Wedekind 1969, S. 213] sei.. Frau
Langheinrich wiederholte mir das Anerbieten, daß wir bei ihnen wohnen könnten.
Ich sagte bedingungsweise zu, gegen Bezahlung von Miethe. Ich glaube aber nicht
daß es möglich wäre; erstens wohnen sie am äußersten Ende MünchensAnna Langheinrich (Inhaberin des in ihrer Wohnung betriebenen Münchner Lese-Instituts) und ihr Mann, der Architekt Max Langheinrich, wohnten in München in der Maxvorstadt (Theresienstraße 31) [vgl. Adreßbuch für München 1907, Teil I, S. 295]., wo Du von
den Schönheiten Münchens wenig Genuß hättest und zweitens meinte sie auf meinen
Vorschlag, Miethe zu bezahlen, selber, daß die Räume dazu zu schlecht und
dürftig seien.
Ich werde mich nun erkundigen, wie | man hier im Hotel
auf Kinder vorbereitet ist, und mich eventuell morgen nach möblierten Wohnungen
umsehen. Heute Nachmittag bekomme ich die Langheinrichsche Wohnung zu sehen.
Wie geht es Dir, geliebte Tilly? Wenn Du irgendwelche Sorgen
hast, dann glaube nicht mich nicht damit beunruhigen zu sollen. MorgenWedekind suchte am 22.7.1907 in München, wie er sich vorgenommen hatte [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 11.7.1907], um neue Kostüme für „König Nicolo oder So ist das Leben“ zu beraten, zunächst einen Münchner Kostümschneider auf, allerdings nicht den Leiter der Kostümabteilung am Münchner Hoftheater Hermann Buschbeck [vgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 15.7.1907], sondern Johann Nepomuk Mück (Hackenstraße 3), „Schneidermeister“ und „Theaterkostümeur“ [Adreßbuch für München 1907, Teil I, S. 359], dann seinen Verleger Albert Langen: „Besuch bei Schneider Mück und bei Langen.“ [Tb] werde
ich meine Unterhandlungen mit Langen aufnehmen und auch den Kostümschneider
besuchen. Der Vom Theater ist niemand in München.
Ich denke also daß Du im Lauf der nächsten Woche
hierher kannst. Hältst du es für nötig daß ich Dich in Graz abhole? Oder bist
Du tapfer genug, | auch diese Reise allein zu machen, wie du die Reise nach
GrazTilly Wedekind ist am 9.7.1907 mit ihrer Tochter Pamela und der Amme von Berlin über Wien nach Graz gereist, eine mühsame Reise, die sie Frank Wedekind geschildert hat [vgl. Tilly Wedekind an Frank Wedekind, 12.7.1907]. so tapfer allein ausgeführt hatSchreibversehen, statt: hast.? Von Deinem lieben Papa erhielt ich einen
sehr freundlichen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Eduard Newes an Wedekind, 18.7.1907. über Berlin hierher nachgeschickt.
Also auf baldiges Wiedersehn, geliebte Tilly. Grüße
Deine lieben Eltern, Schwestern und Brüder. Grüße und küsse unsere geliebte
Anna Pamela von mir.
Herzlichst umarmt und küßt Dich
Dein
Frank.
21.7.7.Wedekind hat am 21.7.1907 in München im Tagebuch notiert: „Brief an Tilly.“
Ich habe den letzten Briefvgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 19.7.1907 (ohne Kuvert und folglich ohne Briefmarke überliefert). faschSchreibversehen, statt: falsch. frankiert, bitte das
nicht als persönliche Beleidigung aufzufassen.