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Rosenberg,
Kirscheng. 2
Freitag, 12./VII.07.
Geliebter Frank,
endlich kann man einiger maßen von Ruhe sprechen. Du bist
mir nicht böse, dass ich solange nicht geschrieben habe?!
Ich fuhr also Dienstagder 9.7.1907. Tilly Wedekind, die soeben erst von einem Kurzbesuch bei ihren Mann aus Leipzig zurück in Berlin war (siehe die vorangehende Korrespondenz), reiste mit ihrer kleinen Tochter Pamela und dem Kindermädchen im Nachtzug zu ihren Eltern nach Graz. mit Anna Pamela u. Zubehör von Berlin
ab, Anna Pamela in tiefem Schlaf. Sie war sehr verwundert über die
ihr fremde Umgebung. Die Nacht über hat sie sich leidlich anständig aufgeführt,
nur bewies sie sich als Männerfeindin; bei Erscheinen | des
Schlafwaagen-ConducteursSchlafwagenvorsteher. fiengSchreibversehen, statt: fing. sie fürchterlich zu brüllen an. In Wien hatten
wir gerade soviel Zeit um von der Nordwest zur SüdbahnEisenbahnlinien; die Nordwestbahn führte (von der Ostsee kommend) von Berlin nach Wien zum Nordwestbahnhof, die Südbahn ab Südbahnhof von Wien über Graz nach Triest. zu übersiedlelnSchreibversehen, statt: übersiedeln.; dann
giengs auch schon los. Ich war bei dem allem von einem Eifer, dass ich vor
Aufregung glühte. Als ich nun etwas müde in Graz mit meinen 10 GebäckstückenSchreibversehen, statt: Gepäckstücken.,
Anna Pamela u. Agnes„Amme und Kindermädchen bei Wedekinds.“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 58] dazugerechnet, ankam, gieng die Aufregung eigentlich erst los. KarlKarl Newes, Tilly Wedekinds jüngster Bruder. ist verreist, Bertl war auf
ÜbungDagobert Newes, Tilly Wedekinds zweitältester Bruder, „war zum Militärdienst eingezogen.“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 58], so blieb ich zu Hause wohnen. Nachdem ich nach | Tisch geruht, sah ich
mich gleich nach einer Wohnung um; u. fand gleich dieses hier. Aber die von zu
Hause wollten Verschiedenes ansehen u. so liefen wir Mittwoch abends u.
Donnerstag Vormittag noch herum. Zu Mittag wurde mir die Geschichte zu dick,
ich nahm die Wohnung, ließ einem/n/ Wagen holen, unsere
GeschäftsburschenMitarbeiter in der Weinhandlung von Tilly Wedekinds Vater Eduard Newes. packten die Sachen auf u. so kamen wir in
strömendenSchreibversehen, statt: strömendem. Regen am RosenbergAnhöhe am Stadtrand von Graz. an.
Gestern u. heute machte ich mit Mama’s Hilfe Ordnung u.
sitze jetzt, bei wunderschönem | Wetter auf der Veranda um Dir dies alles zu
berichten.
Wir bewohnen ein schönes, großes Zimmer, mit hübschen,
hellen Bauernmöbeln; da 2 Betten sind, kann immer eines von zu Hause bei mir
sein, ganz wie ich es gewünscht habe. Dann haben wir noch eine Küche, sehr
klein aber sehr nett, die Amme schläft auch da. Der Garten ist schön u. groß u.
von der Veranda herrliche Aussicht auf die ganzen
Waldungen des Hilmteichsder Hilmteich – ein im 19. Jahrhundert angelegtes künstliches Stehgewässer in Graz und Naherholungsgebiet der Stadt. u. einige Berge. Ich glaube es lässt sich hier leben.
Zu meiner großen Freude ist | heute Bertl zurück gekommen.
Er wird dann heraufkommen. Ich habe bis jetzt nur von mir gesprochen u. Dinge erzählt die Dich wahrscheinlich gar nicht interessieren
werden. Bist Du noch immer in Leipzig? Ich werde den Brief dahin schicken,
bitte gieb’ mir bald Deine neue Adresse. Dein Telegrammvgl. Frank Wedekind an Tilly Wedekind, 10.7.1907. hat mich so sehr
gefreut, mein geliebtester Frank u. habe ich viel an den schönen, letzten Abend
im Ratskellerder Abend von Tilly Wedekinds Kurzbesuch in Leipzig am 8.7.1907 bei Frank Wedekind, der ihre Ankunft um 19 Uhr und den gemeinsamen Besuch im Leipziger Ratskeller notierte: „Um 7 Uhr kommt Tilly. Fahrt durch das Rosenthal. Ratskeller.“ [Tb] gedacht!
Gewiss hast Du in vielem recht. Wenn ich mich so sehr | in
meinen kleinlichen Sorgen vertiefe, geht mir vieles von dem schönsten, besten
meines Lebens, von Dir u. Deiner Tätigkeit verloren. Das muss anders werden, u.
wird sicher auch. Habe nur etwas Geduld mit mir, ich bin jetzt wirklich
gesundlichSchreibversehen, statt: gesundheitlich. unfähig. Ich merke es erst jetzt, wo so die ganze Ermüdung
über mich kommt. Ich werde nun nichts machen, als im Freien sitzen, lesen,
essen, u. schlafen, dann bin ich sicher bald wieder frisch u. | munter. Mit
dieser Ermüdung kann man sich des schönsten Lebens nicht erfreuen.
Dann will ich nur der Freude leben, Dir Freude zu machen, u.
Du sollst alles Hässliche vergessen.
Schreib’ mir bitte, wenn es Dir Freude macht, u. zw. recht viel von Dir.
Wie geht es Dir jetzt; atmest Du auf in Deiner freiwilligen Einsamkeit?
„Gott sei Dank, endlich allein?!“Teilzitat und Anspielung „auf Wedekinds Zeichnungen von Särgen in seinem Notizbuch“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 58], die mit der Beschriftung versehen sind [vgl. KSA 6, S. 855]: „Endlich allein.“ [Nb 41, Blatt 11v]
Hierher zu kommen hättest Du gar keine Lust? | Ich kann
jederzeit ein zweites großes Zimmer mit einem Bett neben dem meinen haben.
Nun kommt leider noch eine Bitte. Ich habe dummer Weise, von
Wien nach Graz tour u. retour(frz.) tour (= Reise), (frz.) retour (= Rückreise); hier: hin und zurück. genommen. (Die einzige Dummheit auf der ganzen
Reise!) Das machte 61 Kr. Hier bezahle ich für die Wohnung 30 Kr. pro Woche, werde also nicht auskommen. Habe
für GebäckSchreibversehen, statt: Gepäck., Wagen etz.Schreibversehen, statt: etc. auch ausgegeben, schreibe Dir alles auf. Willst Du mir für die Reise auch gleich schicken? Retour-KartenRückfahrkarten. gebe
ich zurück, fahre doch sicher über Salzburg oder Tirol. Aber nicht mehr als ich
notwendig brauche. Im Voraus herzlichen Dank.
Nun leb’ wohl, Geliebter,. Von ganzem Herzen umarmt
Dich Deine Tilly
[auf Seite 5, um 90
Grad gedreht am linken Rand, Mathilde Newes:]
Herzlichste Grüsse, lieber Frank Deine alte
Mama.