BabylonWedekind bezeichnet Paris als Babylon – die sagenhafte antike Stadt hatte durch die biblische Erzählung vom Turmbau zu Babel [vgl. 1. Mose 11, 1-9] einen sprichwörtlichen Ruf als ‚Sündenbabel‘, ein Motiv, das Wedekind weiter unten im Brief mit der ironischen Rede von den „Pariser Sünden“ wieder aufgreift., 4. rue Crébillon
9.I.93.
Lieber Carl,
herzlichen Dank für deine liebe freundliche Cartenicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Karl Henckell an Wedekind, 1.1.1893. „Die Neujahrskarte ist verschollen.“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 164]. Sie kam
im richtigen Moment um mir eine wahre Herzensstärkung zu sein. Der erste
Eindruck war darum doch eine Enttäuschung. Ich erkannte kaum deine Schrift, als
ich als natürlich voraussetzte, du zeigest mir deine Ankunft an. Warum kommst du
nicht? Das Beste hat man ja umsonst und das Käufliche kriegt | man bald genug
satt. Theater und Concerte sind hier nicht theurer als in Zürich. Gerade für dich,
der du die Eindrücke so rasch verarbeitest wäre ja jeder Moment, jede
Straßenecke, jeder Schritt den du vor die Thüre tust ein Stück des gehaltvollsten
RohmaterialsWedekind spricht hier dezidiert den an realistischer Beschreibung der Wirklichkeit interessierten Naturalisten Karl Henckell an.. Ich weiß nicht ob ich noch lange hierr bleiben kann. Ich
gäbe viel darum alles was ich gesehen auch noch einmal an deiner Seite zu
sehen. Fürchte nicht, ich würde den lästigen Fremdenführer machen. Ich habe den
direkten intuitiven naiven Genuß zu hoch schätzen gelernt. Es vergeht kein Tag
wo nicht eine der wenigen | Theorien, die ich mir überhaupt je gemacht,
hinfällig Abschied nimmt. Vielleicht muß man Fremder sein, damit e/E/inem
hier der Horizont so gewaltsam auseinander gerissen wird. Das glaub ich
bestimmt, daß man Paris nicht verläßt ohne einen Schatz fürs Leben mit sich zu
nehmen. Man wird nicht blasirt. Die Dinge sind ja überall die nämlichen. Hier
aber kann man lernen ihnen mit jedem Tag eine neue Seite abzugewinnen. Die
Pariser selber haben keinen Überfluß an Material. Aber welch ein Überfluß muß
sich ergeben, wenn man mit einer derartigen Praxis wieder in | unsere
jedenfalls um vieles vielseitigeren Verhältnisse zurückkehrte. ‒ Ich scheine doch noch immer
keinen Mangel an Theorien zu leiden.
Von der Verlobung deiner Schwester„Berthchen“ [Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.1.1893] hat sich verlobt – Bertha Henckell „heiratete den Kölner Kaufmann Karl Keydel“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 164]. hat mir Mati schon
geschriebenHinweis auf einen nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 23.12.1892., ohne mir zu schreiben mit wem sich deine Schwester verlobt hat. Du
läßt es mich vielleicht gelegentlich wissen. Ich möchte deiner Schwester sehr gerne
gratulieren und das kann ich doch so mit dem besten willen nicht gut thun,
wenigstens nicht formell. Dessen ungeachtet bitte ich dich, wenn Du sie siehst
ihr meine herzlichsten Glückwünsche übermitteln zu wollen. Ebenso neu war es
mir, daß Mama | Lenzburg verlassen hat. Ich erfuhr es erst vor wenigen Tagen
durch einen Brief von ihrnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Emilie Wedekind an Frank Wedekind, 6.1.1893. selber demzufolge sie sich in Dresden nach den
überstandenen StrapazenEmilie Wedekind hatte nach dem Tod ihres Gatten im Vorjahr in Lenzburg mit der mühseligen „Abwicklung [...] der Erbteilung einschließlich des Verkaufs von Schloss Lenzburg“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 161] zu tun gehabt und ist anschließend Ende 1892 zu ihrer Tochter Erika Wedekind nach Dresden gereist, wo sie dann einige Zeit wohnte. behaglich und wohl zu fühlen scheint.
Zu Weihnachten erhielt ich einen sehr hübschen Brief von Erich
Hartlebennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Otto Erich Hartleben an Wedekind, 22.12.1892., von in dem er mir seine Freundschaft ankündigt. Er schickte
mir zugleich seinen Pierrot
LuneeDer Gedichtzyklus „Pierrot Lunaire“ (1884) des belgischen Lyrikers Albert Giraud ist in der deutschen Übersetzung von Otto Erich Hartleben vordatiert auf 1893 in dem am 1.10.1892 von Paul Scheerbart in Berlin gegründeten Verlag Deutscher Phantasten erschienen.. Was meine eigenen
Arbeiten betrifft, so webe ichAuftakt der Anspielung auf den Mythos der Penelope in der Beschreibung der Arbeit an der Schauertragödie „Die Büchse der Pandora“ (siehe unten). seit ich mein BalletWedekinds französischsprachige Ballett-Pantomime, die er in Paris nach seiner Rückkehr aus Lenzburg am 12.9.1892 geschrieben hat – „ein Ballet für Follie Bergers“ [Tb 8.12.1892], für das Pariser Cabaret Les Folies Bergères – und die „Anfang November vollendet war“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 161]: „Les Puces. La Danse de Douleur. Ballet-pantomime en trois tableaux“ [KSA 3/I, S. 9-21]; die Ballett-Pantomime ist im Manuskript überliefert [vgl. KSA 3/II, S. 751], wurde aber erst 1897 und 1914 in der deutschen Fassung „Die Flöhe oder Der Schmerzenstanz“ gedruckt [vgl. KSA 3/II, S. 750, 752]. fertig habe und auf die
Musik warteWedekind wartete umsonst auf die Noten zu seiner Ballett-Pantomime „Les Puces“ (frz. „Die Flöhe“) – für deren Begleitmusik hatte er vergeblich versucht, den französischen Komponisten Raoul Stéphane Pugno zu gewinnen [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 161; KSA 3/II, S. 765f.]; „auch seine Hoffnung, Richard Strauss könnte sich für eine Vertonung der ‚Flöhe‘ interessieren, zerschlug sich.“ [KSA 3/II, S. 765], an/w/ieder an einem Gewand | der Penelopeein Gewand, das ein Leichentuch ist; Anspielung auf den Mythos der Penelope, der Gattin des Odysseus, „die zwei Jahrzehnte treu auf ihren Mann wartet. In dieser Zeit macht ihr eine Vielzahl von Freiern den Hof, die sie sich in den letzten drei Jahren durch das Weben eines Leichentuchs, das sie nachts immer wieder auftrennt, vom Leibe hält.“ [Brodersen/Zimmermann 2006, S. 453] Wedekind beschreibt mit diesem Bild seine Arbeit an der Schauertragödie „Die Büchse der Pandora“ (1894), die wohl schon zum Zeitpunkt der Niederschrift des 1. Aktes diesen Titel tragen sollte [vgl. KSA 3/II, S. 853]; mit dem Leichentuchweben der Penelope klingt eine durch den Sexualdiskurs begründete Todesmotivik an, die sich in dem von Wedekind ebenfalls erwogenen Titel „Staub“ findet – in dem im sogenannten „Stollberg-Manuskript“ überlieferten Titelblatt-Entwurf „STAUB. Eine Tragödie“ [vgl. KSA 3/II, S. 857].. Du kennst ja
mein Faible für das nächtliche AufrebbelnFinale der Anspielung auf den Mythos der Penelope in der Beschreibung der Arbeit an der Schauertragödie „Die Büchse der Pandora“ (siehe oben).. Es gieb wird eine fünfactige ac/Sch/auertragödie
wenn es je etwas wird. Über den ersten AktDie Niederschrift des 1. Akts der fünfaktigen Monstretragödie „Die Büchse der Pandora“ (1894) war am 4.12.1892 abgeschlossen [vgl. KSA 3/II, S. 833]. bin ich noch nicht hinausgekommen.
Weißt Du vielleicht wie es mit Bierbaums MusenalmanachDer erste Jahrgang der von Otto Julius Bierbaum herausgegebenen Anthologie – „Moderner Musen-Almanach auf das Jahr 1893. Ein Sammelbuch deutscher Kunst“ (1892) – sollte spätestens zu Weihnachten 1892 erscheinen, wie Wedekind wusste [vgl. Otto Julius Bierbaum an Wedekind, 7.7.1892], aber offenbar noch kein Exemplar in Händen hielt, obwohl der Band inzwischen im Verlag Dr. E. Albert & Co. in München erschienen war [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 290, 14.12.1892, S. 7741]. Die von Wedekind für diesen Band eingesandten Gedichte sind nicht darin enthalten. Der zweite und letzte Band der von Otto Julius Bierbaum herausgegebenen Anthologie – „Moderner Musen-Almanach auf das Jahr 1894. Ein Jahrbuch deutscher Kunst“ (1893) – enthält dann einen Teilabdruck von Wedekinds vielleicht bereits seit dem Sommer 1887 in Zürich, wahrscheinlich aber erst seit dem Winter 1888/89 in Lenzburg [vgl. KSA 2, S. 1135f.] entstandener Verskomödie „Elin’s Erweckung“ [KSA 2, S. 455-595], nämlich ein Auszug aus der 2. Szene [vgl. KSA 2, S. 1144] unter dem Titel „Bruchstück aus der Komödie ‚Elin’s Erweckung‘“ [KSA 2, S. 507-514]; die Verskomödie ist teilweise in Zusammenarbeit mit Karl Henckell entstanden [vgl. KSA 2, S. 1136, 1140f.]. steht? Bierbaum soll wie
man mir aus Amerika schreibtHinweis auf einen nicht überlieferten Brief; erschlossenes Korrespondenzstück: Hans Richard Weinhöppel an Wedekind, 1.1.1893. schwer krank sein. Ich habe seit Jahr und Tag
nichts mehr von ihm gehörtvgl. Otto Julius Bierbaum an Wedekind, 10. bis 15.10.1892..
Meinen besten Dank für dein Aus meinem LiederbuchKarl Henckell muss Wedekind seinen neuen Lyrikband „Aus meinem Liederbuch“ (1892), der einige Wochen zuvor im Verlag E. Albert & Co. in München erschienen ist [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 275, 26.11.1892, S. 7301], angekündigt haben – auf der nicht überlieferten Neujahrskarte (siehe oben).. Ich habe
es noch nicht erhalten sonst würde ich dir darüber | schreiben können. Ich
werde es nicht unterlassen. Mein Leben fließt momentan in absoluter Stille dahin.
Meine drei Weibernicht sicher identifiziert; gemeint waren möglicherweise Rachel Decoulange, Henriette Joli, Fernande (Nachname unbekannt), alle drei Frauen zwischen dem 3. und 24.12.1892 nur mit ihren Vornamen von Wedekind häufiger notiert [vgl. Tb]. hab ich mir glücklich vom Halse geschafft. In dieser Hinsicht
habe ich Paris überwunden. Damit bin ich aber auch so ziemlich zum Einsiedler
geworden. Vor wenigen Wochen beglückte Morgenstern ParisWilly Rudinoff (Geburtsname: Willy Morgenstern) trat im Cirque d’Hiver auf, wo Wedekind, der 1890 in München von ihm gezeichnet worden ist und seitdem mit dem Universalkünstler befreundet war, am 5.12.1892 im Publikum saß und sich in der Pause, nach dem Zwischenakt und nach der Vorstellung mit ihm traf, nachdem der Freund ihn erkannt und ihm einen Zettel geschrieben hat [vgl. Willy Rudinoff an Wedekind, 5.12.1892]. Seine letzte Vorstellung in Paris, die Wedekind ebenfalls besuchte, gab er wohl am 22.12.1892, wie Wedekind, der anschließend noch eine lange Nacht mit ihm verbrachte, notierte: „Stehe gegen 9 Uhr Abend auf, dinire und gehe in den Circus. Ich hatte Morgenstern versprochen hinzukommen. [...] Beim Abschiednehmen lädt mich Morgenstern auf Montag Mittag zum Frühstück ein.“ [Tb] Dieser Montag war der 26.12.1892, wahrscheinlich Willy Rudinoffs Abreisetag von Paris. mit seinen
SchattenbildernWedekind notierte am 5.12.1892 über Willy Rudinoffs Bühnenprogramm im Cirque d’Hiver: „Seine Schattenbilder haben, so bescheiden sie sind, den meisten Beifall geerntet. Einen Kuß der darin vorkommt markirt er als Vogelstimmenimitator.“ [Tb]. Er war im Cirque d’Hiver mit 1000 frs monatlich engagirt und arbeitet
gegenwärtig in Lion bei RancyWedekind notierte am 21.12.1892 über Willy Rudinoffs anstehendes Engagement am Cirque Rency in Lyon: „Für den nächsten Monat ist er zu Rency in Lion engagirt.“ [Tb] Und am 22.12.1892: „Frau Rubini, eine Agentin in Paris hat Morgenstern sein Engagement zu Ranci vermittelt.“ [Tb] für 2000 frs.
Wir verlebten einige glückliche AbendeWedekind verbrachte mit Willy Rudinoff in Paris nachweislich die Abende (oder begegnete ihm auch schon tagsüber) am 5.12.1892, 7.12.1892, 8.12.1892, 11.12.1892, 21.12.1892 und 22.12.1892 [vgl. Tb]. zusammen, meistens in
CircusgesellschaftWedekind notierte am 22.12.1892 im Tagebuch ausführlich den Besuch von zwei Pariser Lokalen, in denen Zirkusartisten verkehrten, insbesondere seine Bekanntschaft dort mit einem ‚dummen August‘ (Clown), einem Wildkatzenbändiger und einer Balletteuse [vgl. Hay 1986, S. 255-258]., unter BaleteusenSchreibversehen (oder französisierende Schreibweise), statt: Balletteusen (= Balletttänzerinnen)., Kunstreitern, Schlangenmenschen, | Katzenbändigern,
AtletenSchreibversehen, statt: Athleten., dummen Augusten und anderem Gelichterabwertende Bezeichnung für eine Gruppe von Menschen aus einem Milieu (hier: des Zirkus); Gesindel.. Mein treuer Genosse Weinhöppel
ist mit seiner SchülerinDie Gesangsschülerin war wohl Wilma Schedlbauer, die dann 1894 unter ihrem Pseudonym Vilma Bertani Volontärin an der Oper des Großherzoglichen Hoftheaters in Darmstadt war [vgl. Neuer Theater-Almanach 1895, S. 333]. „In der Oper wurde Wilma Bertani (recte Schedlbauer) aus München, eine Anfängerin, mit kleinen Partien betraut.“ [Hermann Knispel: Das Großherzogliche Hoftheater zu Darmstadt 1810-1910. Darmstadt 1910, S. 88] Hans Richard Weinhöppels Gesangsschülerin ist ihm von München nachgereist und kam am 14.6.1892 in Paris an, wie Wedekinds Tagebuch vom 21.5.1892 und 13.7.1892 zu entnehmen ist; sie ist namentlich erwähnt am 21.6.1892 („Frl. Schedelbauer mit herunterhängender Nase und schiefen Augen ist geradezu gewöhnlich“), am 29.7.1892 („Nach dem Diner suche ich Weinhöppel auf [...]. Er musicirt mir einiges vor. Darauf bitte ich Frl. Schedelbauer zu singen. Ihr Gesang versöhnt mich vollkommen mit ihrer unglücklichen Erscheinung“) und am 1.8.1892 („Gehe Abends nach Moulin rouge und treffe dort unversehens Weinhöppel mit seiner Schülerin. Frl. Schedelbauer [...] wird die Vorstellung nicht los daß ihr Richard in den Armen einer andern liege. [...] Weinhöppel hat sie barbarisch gut gezogen. Sie würgt ihre Eifersucht hinunter [...]. Sie läßt jede Demüthigung jede Rohheit über sich ergehen“). nach Amerika gegangenDer eng mit Wedekind befreundete Musiker und Komponist Hans Richard Weinhöppel war 1892 bis 1896 „Dirigent an der Opéra Française in New Orleans“ [Nottscheid 2008, S. 396]. Wedekind hatte ihn am 22.7.1889 in München kennengelernt [vgl. Tb]. Er ist in den Pariser Tagebüchern des maßgeblichen Zeitraums (erhalten sind hier Einträge vom 30.4.1892 bis 3.8.1892 und vom 3. bis 24.12.1892) oft erwähnt, erstmals am 30.4.1892 („Mit [...] Weinhöppel zum Essen, darauf ins Casino de Paris, wo Weinhöppel seine Augen wie zwei Wolfsrachen aufreißt“), dann nach häufigen weiteren Erwähnungen am 3.8.1892 („Darauf gehe ich zu Weinhöppel“), schließlich am 21.12.1892 („Adele [...] fragt nach meinem Freund. Ich sage er sei in Amerika, in New-Orleans“), zuletzt im Rückblick am 22.12.1892, als Wedekind dem Universalkünstler Willy Rudinoff ein Erlebnis mit dem Freund erzählt („Als wir beim Restaurant de la Rotonde vorbeikommen erzähle ich Morgenstern das Abenteuer das ich dort eines Abends mit Weinhöppel hatte. Es war an einem der letzten Tage vor seiner Abreise in die neue Welt“). Wann genau Hans Richard Weinhöppel von Paris abreiste, um in New Orleans seine Stelle anzutreten, ist unklar. Es dürfte im Herbst 1892 gewesen sein. Wedekind jedenfalls notierte am 3.12.1893 über seinen Umgang mit Carl Muth (notgedrungen aus Mangel an Gesellschaft): „Was mich an ihn fesselt, ist der Umstand, daß seit Weinhöppels Abreise oft 14 Tage vergehen, ohne daß ich mit einem Menschen zusammenkomme.“ [Tb] wo er als Chordirigent bei
kläglichem Salair für seine Pariser SündenRichard Weinhöppel hat 1892 in Paris ein ausschweifendes Sexualleben geführt, wie Wedekinds Pariser Tagebüchern zu entnehmen ist. Buße thut.
Ich hoffe zu Gott daß Du mir nun auch mal schreibst ‒ wenn Du nicht bald
kommst. Du hast mit der Wurst nach dem Schinken geworfen und wirst es nicht dabei
bewenden lassen wollen. Meine Gedanken sind nicht selten bei dir Ich mache mir
auch hin und wieder das Vergnügen, an Hand von deinen AmselrufenKarl Henckells im Verlags-Magazin (J. Schabelitz) in Zürich veröffentlichter Gedichtband „Amselrufe“ (1888) [vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 57, 9.3.1888, S. 1211] enthält „mehrere Gedichte“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 123], die an Erika Wedekind gerichtet sind, Arthur Kutscher zufolge [vgl. Kutscher 1, S. 143] zwei an Frank Wedekind gerichtete Gedichte – unbetitelte Verse [vgl. Karl Henckell: Amselrufe. Neue Strophen. Zürich 1888, S. 64f.] und das Gedicht „Uetli“, in dem er als „Brüderchen Baby“ [ebd., S. 101] bezeichnet ist – sowie ein Gedicht an die Mutter: „Widmung an Frau Emilie Wedekind auf Schloß Lenzburg“ [ebd., S. 151]. | den ganzen
herrlichen Sommer 87Karl Henckell und Wedekind hatten den Sommer 1887 gemeinsam in Zürich verbracht, wo beide studierten. mit all seinen Verrücktheiten, seinen Spielereien, seiner
harmlosen Unschuld, seinem blauen Himmel, seinen Ausflügen, freventlichen
Versäumnissen, Küssen, Thränen, Scenen, Verwicklungen, mit seiner rührenden
Komik, seinem unendlichen Geistesflug, seiner göttlichen Faulenzerei wieder
Revue passiren zu lassen. Ich bin zwei Mal Kind gewesen, und das zweite Mal
danke ich dir. Glaub mir auch daß ich es hoch genug anzuschlagen weiß, daß wir
gerade in den letzten Jahren unseres Zusammenseins auf dem SchlosseKarl Henckell war 1886/87 „als gern gesehener Gast“ [Kutscher 1, S. 140] oft auf Schloss Lenzburg, „wöchentlich“ sei er „zum Schloss hinauf“ gestiegen, „auch wegen Franklins jüngerer Schwester Erika, um bei einem Glas Wein [...] über Literatur, Kunst und Politik zu palavern.“ [Vinçon 2014, S. 39] Er hat sich am 29.5.1887 in Lenzburg mit Erika Wedekind verlobt, was „auf Schloss Lenzburg nicht auf Beifall stieß“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 123]; die Verlobung wurde bald wieder gelöst. – Wedekind und er jedenfalls haben sich im Sommer 1886 dort kennengelernt und angefreundet. „Die jungen Schriftsteller lasen einander ihre Werke vor, machten gemeinsame Ausflüge und schlossen sich in einer fürs Leben währenden Freundschaft zusammen.“ [Kutscher 1, S. 143] dich dabei
hatten, der Du uns | so manches Schöne aus jener Zeit für alle Zeiten gewährt
hast. Über andere Dinge, derentwegen wir uns in den Haaren lagen, hab ich
indessen auch anders denken gelernt. Demgemäß kam mir dein Gruß „in alter
FreundschaftZitat aus der nicht überlieferten Neujahrskarte Karl Henckells (siehe oben). Wedekind zitierte die Stelle auch im Brief an seine Mutter [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 7.1.1893].“ wie aus der eigenen Brust, ich meine, wenn es dir ein Bedürfniß
war, so ist es mir das gewiß nicht minder. Empfange nochmals meinen innigsten
Dank dafür.
Und nun leb wol/h/l. Mein Kaminfeuer ist am
Ersterben, schickt dir aber doch die besten/wärmsten/ Grüße. Ebenso
meine Guitarre. Herzliche Grüße an TomarElias Tomarkin, der mit Wedekind befreundete Medizinstudent in Zürich, den er 1887/88 im Züricher Kreis um Carl Hauptmann und Karl Henckell kennengelernt hat [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 132] und dessen Name die Figur Elias in der Verskomödie „Elin’s Erweckung“ mitinspiriert haben dürfte [vgl. KSA 2, S. 1187], hat Wedekind dann auf seiner Durchreise nach London in Paris besucht – nachweislich haben die Freunde sich am 28.3.1893 in Paris gesehen [vgl. Wedekind an Carl Muth, 29.3.1893].. Auf baldiges Wiedersehen. Dein Franklin.