Salzburg, 25.10.1914.
Mein
lieber Frank!
Nicht
wahr, Du bist mir nicht böse, daß ich Dir solange nicht schrieb. Also Neues:
auf meine Anfrage, ob man geschlossene Pakete ins AuslandAufgrund der kriegsbedingten Postüberwachung durften Postsendungen ins Ausland seit dem 25.7.1914 in Österreich nur unverschlossen verschickt werden, Paketsendungen zudem keine schriftlichen Mitteilungen enthalten. schicken dürfte
erfuhr ich: nein! Bitte wolltest Du mir mitteilen, ob ich Dir das „Menschenrecht“ offen sendenFriedrich Strindberg hatte Wedekind angeboten, ihm sämtliche Manuskripte und Abschriften seines Stücks „Menschenrecht“ (nicht überliefert) zu überlassen, nachdem es wegen Handlung und Figurengestaltung im Stück zum Konflikt mit seinem Vater gekommen war, der sich und seine Familie kompromittiert sah, würde das Drama veröffentlicht [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 5.5.1914 und 9.5.1914]. soll oder es Dir bei unserer nächsten
Zusammenkunft übergeben könnte.
An
meinem StückVermutlich handelt es sich um das Stück, das Friedrich Strindberg unter dem Titel „Epiphania“ konzipierte [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 24.5.1914]. arbeitete ich in der letzten Zeit nicht sehr viel. | Das Lernen
ist mir wichtiger, als die Überhudlungvon österreichisch „hudeln“: übereilt und mit mäßiger Sorgfalt vorgehen. im Schreiben. Auch denke ich viel zuerst
herum, bis ich es niederschreibe. 5 Akte, 25 Szenen bitte erschrick nicht.
Bitte würdest Du mir gestatten, es Dir bei unserer nächsten Zusammenkunft, wenn
es auch bis dahin lange wäre, zu übergeben. Ich hoffe, daß das Stück d/D/ir
gefallen werde, wenn es auch ganz aus der Art geschlagen ist. Zum Vorbild war
mir, was ich über Shakespeare las und nicht was ich bei ihm fand. Denn ich muß gestehen, daß ich mit
seinen Werken ebenso wie mit denen Schillers auf denkbar | schlechtestem Fuße
stehe. Und auch hütete ich mich soviel als möglich VerkörperungenIn seinem Stück „Menschenrecht“ hatte Friedrich Strindberg etliche Personen aus Wedekinds Münchner Freundeskreis in seinen Figuren ‚verkörpert‘ [vgl. Friedrich Strindberg an Wedekind, 17.2.1914], so dass es in den Augen Wedekinds den Charakter eines Schlüsseldramas bekam, den er missbilligte. zu „machen“;
ich setzte allerdings
einem früheren Freund ein Denkmal und der liebe PaterVermutlich der Inspektor der Stiftskellerei Pater Leander Itzlinger [vgl. Salzburgischer Geschäfts-, Volks- und Amts-Kalender 1913, S. 110]. vom PeterskellerDer Stiftskeller St. Peter ist ein traditionsreiches Weinlokal und Restaurant in der Benediktinerabtei St. Peter in der Salzburger Altstadt. Wedekind besuchte es, als er sich mit Friedrich Strindberg in Salzburg traf [vgl. Tb, 26.9.1914]. diente
mir zu einem „Bruder Martin“Figur aus Goethes Drama „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand“ (1773)., wie ihn Goethe darstellt, allerdings mit neueren
Ideen, wenn nicht älteren.
Lieber
Frank, wie geht es Dir immer. Wir (hierzun) hierzulande begeistern uns alle um kein schlechtes Beispiel
zu bieten an der Haltung der deutschen SozialdemokratenNachdem die SPD zu Beginn des Ersten Weltkriegs noch zu Massendemonstrationen gegen den Krieg aufgerufen und sich für eine Friedenspolitik eingesetzt hatte, stimmte sie am 4.8.1914 im Reichstag den zur Kriegsführung benötigten Kriegskrediten zu und schlug sich unter der gemeinsamen Parole ‚Gegen den Zarismus‘ auf die Seite der Kriegsbefürworter. In der Presse wurde dieser Schritt in der Folge in zahlreichen Beiträgen gerechtfertigt, so auch kurz vor Friedrich Strindbergs Brief. Philipp Scheidemann schrieb: „Wir in Deutschland hatten die Pflicht, uns gegen den Zarismus zu wehren, hatten die Aufgabe zu erfüllen, das Land der am meisten entwickelten Sozialdemokratie zu schützen vor der drohenden Knechtschaft durch Rußland. […] Ein von dem Zaren geknechtetes Deutschland hätte die sozialistische Bewegung der ganzen Welt, nicht nur die Deutschlands, um Jahrzehnte zurückgeworfen.“ [Arbeiter-Zeitung, Jg. 26, Nr. 293, 22.10.1914, S. 4] Die gleiche Zeitung druckte „Das Testament eines sozialdemokratischen Kriegers“ ab, in dem es hieß: „Und nun zur neuen Aufgabe: Es gilt dem Despotismus und Zarismus. Es geht aufs Ganze, bis zur vollständigen Vernichtung. Es gilt unsere und auch unserer russischen Volksgenossen Befreiung von diesen Blut- und Henkersknechten. […] falle ich in diesem Ringen, so kann ich mir keinen schöneren Tod denken: Mit dem Volk, für das Volk! Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein!“ [Arbeiter-Zeitung, Jg. 26, Nr. 295, 24.10.1914, S. 5], von denen einer mir
gegenüber äußerte: er hät|te es in unseren Zeiten nicht für möglich gehalten,
daß noch ein so großes „Viehschlachten“ stattfinden könne. Aber es handelt sich ja um die Freiheit der
russischen Brüder, um ihnen zu zeigen, daß sie es unter deutscher Herrschaft
besser haben könnten.
Nicht
wahr, Du zürnst mir nicht, wenn ich den Versuch unternehme nahe an Dich
heranzukommen, daß Du keine bitteren Gedanken mehr hast, wenn wir das nächste mal uns wiedersehen.
Und in
dieser Hoffnung grüßt Dich
Dein
Friedrich.