Strassburg den 18. Oct.
„Wo der FuchsStraße in Straßburg, Adresse von Carl Schmidt; (frz.) Rue renard préchant aux canards. den Enten
predigt“ No 7.
Mein lieber Franklin!
Ich weiss es dein unverbrüchliches Schweigen seit letztem FrühjahrIm Frühjahr 1882 hatte Carl Schmidt an der Kantonsschule Aarau die Matura (Abitur) gemacht und war zum Studium der Geologie zunächst nach Genf gezogen. ist ein Theil deiner
Charactereigenthümlichkeiten, der mit meiner Person wenig oder nichts zu thun
hat. Das Einzige, was mich bei meiner baldigen Abreise hieher verdross, war
dass ich dich nicht u. Schibler
kaum eine Viertelstunde gesehen hatte.
Nun ich bin also jetzt in StrassburgCarl Schmidt war seit dem 18.10.1882 für Naturwissenschaften an der Universität in Straßburg immatrikuliert [vgl. Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studenten der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg für das Winter-Halbjahr 1882/83 (Strassburg 1882), S. 35]., die Brust voller Hoffnungen,
die alle emporsteigen höher als die Spitze des MünstersMit seinem 142 Meter hohen Turm galt das Straßburger Münster (Münsterplatz) seinerzeit als höchstes Bauwerk der Menschheit.,
an vieler Arbeit wird es mir nicht fehlen, da ich gewiss 30 Collegien hören
werde. Gegenwärtig bin ich im vollkommenen Uebergangsstadium, ich habe nichts
als die Hoffnung auf die Zukunft u den Rückblick auf die Vergangenheit. Es ist etwas langweilig in einer fremden Stadt ohne
Beschäftigung u Gesellschaft herumzuliegen u. nichts zu thun.
Die Collegien beginnen nämlich kaum vor dem 30. Oct.ein Montag, statt wie
ausgeschrieben am 16. Oct.ebenfalls ein Montag.
Ich habe mir nun meinen Hausstand eingerichtet, ein hübschesSchreibversehen, vermutlich statt: ein hübsches Zimmer. | hat sich nach u nach aus einer
ziemlich vernachlässigten Höhle herausgepuppt, Morgen u. Nachtessen fabricire
ich mir selbst, was natürlich viele Zubereitungen, Ankäufe, Accorde(frz.) Abkommen. ect.Schreibversehen, statt: etc.; Abkürzung für: et cetera (lat.) und so weiter. erforderte, ausserdem gehe ich jeden Tag 4 – 5
mal aufs Schloss um
das schwarze Brettdie Informationstafel der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg (1872-1918), die 1882 ihren Sitz noch im Straßburger Schloss am Schlossplatz 2 [vgl. Adressbuch der Stadt Strassburg 1882, Teil I, S. 79] hatte, der Neubau wurde 1884 eingeweiht. zu studiren, an dem wieder ein neuer Anschlag anzeigt der Herr Prof. Dr
x werde später anzeigen, wann er seine Vorlesungen beginne, den übrigen Theil des
Tages spatzire ich,
trinke verschiedene Schoppen u lese hie u da was. Gestern war ich auf dem Grümpelbüchermarkt(elsässisch) Bücherflohmarkt. u habe mir
franz.
Romane gekauft für 1.50 Fr.
5 Bände, als Belohnung für Deinen nächsten Brief sollst du den schönsten
erhalten – Du weisst eigentlich noch wenig, wie ich die Zeit meines ersten
Semesters zugebracht. Ich sage Dir, mit Freuden würde ich morgen wieder in die
Maturität gehen, wenn ich das I. Semester wieder zurück nehmen könnte. Erst
nachdem die Zeit verflossen
lerne ich recht schätzen wie schön es wahrSchreibversehen, statt: war.. Ich habe gearbeitet, zwar nicht zu viel u. habe die Welt
angeschaut u. ge sie angejauchzt, mit Freunden geschwärmt u. bin in
Liebchens Armen gelegen. Ich hätte dir viel zu erzählen, besuche mich | nächste
Neujahrferien hier, du kannst bei mir leben u. die Reise kostet nicht mehr wie
20 Frs. hin u.
zurück. – Im MilitardienstDie sechswöchige Rekrutenzeit (Grundausbildung) dürfte Carl Schmidt im August und September absolviert haben.
lernte ich mich als Schweizer fühlen, zum ersten mal war ich so recht stolz auf
mein Vaterland, aus allen Ständen zusammengewürfelt lebten wir wie Brüder unter einander. Mein Bettnachbar entpuppte
sich als Geologe, u. nicht nur deshalb ich ist er mein Freund geworden,
der dritte im Bunde, den ich seit letztes Frühjahr erworben. – Zu Hausein Brugg. nun trat ich in den
alten lieben Kreis ein, der sich so oft zu frohen Thaten in frühern Zeiten
versammelt hatte, inSchreibversehen, statt: ich.
fand die alten Leute wieder, zwar nicht mehr den alten jugendfrischen
lebendigen Geist, vielleicht hatte ich auch andere Augen mitgebracht, aber Siegrist u PöldiDie Brugger Freunde Hans Sigrist und Leopold Frölich, die 1881 das Abitur an der Kantonsschule Aarau erlangt hatten – sie waren mit Frank Wedekinds Bruder Armin und Adolf Vögtlin in einer Klasse – und anschließend zum Medizinstudium nach Genf gegangen waren [vgl. Frank Wedekinds Korrespondenz mit Adolf Vögtlin]. selbst klagten mir,
ohne dass ich von meinem Gefühle etwas gesagt hatte. Geht hinaus ihr Leute in’s
fremde Leben, allein
u. unbekannt sucht u. findet die Besten; um sie um euch zu vereinen! Und dann
kommt wieder heim u. ihr liebt euch um so inniger! – „Das Loos ist aus der Urne
gefallen“ u. hat mich zum Steinmenschen bestimmt. Giordano Bruno sagt | „Liebe ein WeibCarl Schmidt dürfte die vielzitierte Sentenz aus der Sekundärliteratur rezipiert haben, z. B.: „Liebt ein Weib, wenn ihr wollt, aber vergesst nicht, Verehrer des Unendlichen zu sein.“ [Friedrich Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Dritter Theil. Die Neuzeit Geschichte. Hg. von Max Heinze. 5. Aufl. Berlin 1880, S. 30]. aber vergiss darob die
Unendlichkeit nicht.“ Ich sage:/!/ „Liebe die Steine u liebe ein Weib,
u. dann siehst du die Unendlichkeit.“ Ich habe den südl. JuraDas Gebiet zieht sich von Saint Cerque am Genfer See bis Mûrs-et-Gélignieux im französischen Departement de l’Ain in der Region Auvergne-Rhône-Alpes., einen Theil von Savoyenin der Region Auvergne-Rhône-Alpes im Osten Frankreichs an den südlichen Jura, die Schweiz und Italien (Piemont) grenzend. u. das Département de l’AineSchreibversehen, statt: Departement de l’Ain; in der Region Auvergne-Rhône-Alpes zwischen den Städten Genf und Lyon gelegen.
geologisch durchforscht, in letzter Zeit noch 8 Tage die Umgebung des Unter
Urnerseeesder südlichste Teil des Vierwaldstättersees., d. h.
die herrlichsten Gegenden. „O
Weltin Anlehnung an das Volkslied „O Welt, Du bist so wunderschön!“ von Julius Rodenberg. die wie bist du wunderschön“, ist die Basis aller der Gefühle, die ich heim brachte. Aber
das Bild wird erst erhaben u. ernst, wenn vor meinem Geiste, die grüne Decke
von Wald u Wiese sich he wegschält u. das Auge des Geologen zu sehen
beginnt. Die Steine sind nicht todt, wohl aber die blasirte Menge, die über sie
hinweg tritt u. sich in ihrer stinkenden
Dummheit Herren der Schöpfung nennt.
Nun leb’ wohl mein lieber Franklin, lass bald
etwas von Dir hören, schicke mir einige von Deinen neuen Gedichten. Gute Lehren
will ich Dir keine geben, versündige Dich nur nicht an Deiner Natur u. werde
kein gewöhnlicher
Mensch.
Sei herzlich gegrüsst
von Deinem alten
C. Schmidt
Beiliegend meine PhotographieDie Beilage ist nicht überliefert., in der Hoffnung die deine auch
bald zu erhalten!