Charlottenburg. 20 Oct.
Leibniz
Str 60.
Lieber, lieber Meister.
Theurer Frank.
Schreibe mir einen Sketch
für das VarietéAdele Sandrock hat gut ein Jahr zuvor auch Arthur Schnitzler um die Abfassung einer Szene für das Varieté gebeten, wie er am 13.10.1910 notierte: „Brief von der Sandrock: Reinhardt habe sie gekündigt; kein Ausweg; solle ihr eine Varietéscene schreiben.“ [Tb Schnitzler] „Herr Direktor Reinhardt“ hat „mich auf die Straße gesetzt“, hatte sie Arthur Schnitzler am 5.10.1910 geschrieben, außerdem: „nachdem ich [...] jetzt tatsächlich am Hungertuch mit meiner Familie nage – so habe ich mich entschlossen bevor ich zur Kugel greife – ans Varietetheater zu geh’n [...]. Die Sache muß immerhin vornehm und literarisch sein. Schreiben Sie mir eine Sache mit wenig Personen, oder eine Soloszene, die für mich paßt tragisch oder lustig, aber schreiben Sie mir was – denn dann bin ich gemacht, und mir steht mit der Sache die Welt offen, und ich brauche nicht zu hungern.“ [Wagner 1983, S. 249f.] Arthur Schnitzler hat die Szene – ebenso wie Wedekind – nicht geschrieben.s/!/!!!!
Toll, dirnenhaft, lasterhaft ‒ gemein, brutal, verwerflich.
Spielzeit 30 Minuten. Höchstens 2 ‒ 3 Personen. Alter eine Frau von 30 JahrenAdele Sandrock war am 30.8.1911 gerade 48 Jahre alt geworden und hatte darunter gelitten, dass ihr Vertrag mit Max Reinhardt sie dazu verpflichtete, wie es im Zusatzpassus des Vertragstextes heißt, „insbesondere ältere Frauenrollen zu spielen.“ [Ahlemann 1988, S. 262]! Ich habe die Absicht
zum Varieté zu geh’n ‒ nachdem für mich an einer Kunststätteein Theater (und eben kein Varieté), wie Adele Sandrock meinte.
kein Brod mehr zu verdienen ist. Es kann auch ein Prechcoupletentweder Begriffsbildung durch Wortzusammensetzung aus ‚prêche‘ (frz.) = ‚Predigt‘ und ‚Couplet‘ = Lied; ein Couplet ist ein Strophenlied, das „seinen Witz aus der Mehrdeutigkeit“ bezieht, „die der Refrain durch die jeweils voraufgehende Strophe erhält“ [Budzinski/Hippen 1996, S. 67] ‒ oder möglicherweise Schreibversehen (oder Verballhornung), statt: Sprech-Couplet. vorkommen drin ‒ die du ja so meisterhaft schreibst. Ich bitte
dich geliebter Frank thue mir diesen Freundschaftsdienst, | damit
ich auf meine alten Tage nicht verhungern mußAdele Sandrock hatte auch Arthur Schnitzler ähnlich am 5.10.1910 geschrieben (siehe oben).. Ein Sketch von Dir, dazu mein Name, und meine Kunst, und wir
verdienen Beide viel, viel Geld. So eine Art Scene
Lulu, dritter AktDer 3. Aufzug der dreiaktigen Tragödie „Die Büchse der Pandora“ handelt in der elenden Dachkammer in London und endet mit der Ermordung Lulus [vgl. KSA 3/I, S. 520-549]; das letzte Wort in der Tragödie hat die Gräfin Geschwitz (diese Rolle hatte Adele Sandrock in der Wiener Premiere am 29.5.1905 gespielt): „O verflucht!“ [KSA 3/I, S. 540] Büchse der Pandora! Ich habe einen tüchtigen
Impresarionicht identifiziert., und kann, wenn ich mich so wie Harry WaldenHarry Walden trat seinerzeit erfolgreich als Gast im Apollo-Theater auf, einem Berliner Varietétheater. Der „durchschlagende Erfolg, den das Auftreten Harry Waldens im Apollo-Theater vom ersten Tage an zu verzeichnen hatte“, und die „abendlich stets vollen Häuser“ seien „ein Beweis für die Popularität dieses geschätzten Künstlers“, meinte die Presse über „das reizende Vaudeville ‚Sein Herzensjunge‘“, in dem er auftrat; das von ihm in diesem Stück „vorgetragene Gedicht ‚Ein Walzer klingt‘“ wurde gelobt als „ein Kabinettstück darstellerischer und mimischer Kunst, sowie das von ihm und seiner temperamentvollen Partnerin Claire Kretschmer mit ebensoviel Drolerie wie Pikanterie gesungene Duett, wobei ein da capo-Vers nach dem andern eingelegt werden mußte, [...] lösten wahre Beifallsstürme aus.“ Das Vaudeville war aber nur eine „Nummer des Varieté-Programms“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 361, 4.8.1911, Morgen-Ausgabe, S. 5]. Es wurde weiter gespielt, bis Harry Waldens Vertrag am 31.8.1911 endete: „Im Apollo Theater ist heute der vorletzte Sonntag des August-Programms; den Clou des Abends bildet noch immer Harry Walden in dem Vaudeville ‚Sein Herzensjunge‘. Harry Waldens Gastspiel endigt ebenfalls mit Ablauf dieses Monats.“ [Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 389, 20.8.1911, Morgen-Ausgabe, S. 6]
noch einige Jahre darauf verlege mir endlich noch ein schönes Einkommen
zusammentingeln. Ich habe nicht das Vermögen um mir hier eine Stellung als
TragödinAdele Sandrock hatte in Wien als Tragödin geglänzt, auch bei ihren wenigen Auftritten bei Max Reinhardt am Deutschen Theater in Berlin, aber dort „im Laufe der Vertragszeit [...] nur wenige Rollen zu spielen“ [Balk 1997, S. 61] bekommen. zu kaufen, und gehe ich zum Varieté,
dann kann ich alle Leute auslachen. Ich bitte Dich | Frank,
schreibe mir eine Sensationssache, denn ich habe schwere Sorgen,
und auf diese Art, kann ich mir ein Vermögen machen! Thue mir
diesen großen Freundschaftsdienst. Ein sarkastisches Prechcouplet wäre großartig dort angebracht ‒ und bis 1 Januar
möchte ich den Sketch haben. Vielleicht hast du eine Idee die du dazu verwenden
kannst, ich mache dann eine ganz gehörige Reclame, und ziehe von Stadt zu
Stadt, und wenn ich von dir einen Sketch
spiele, so ist das ein aufgelegtes, großesdreimal unterstrichen. Geschäft. Thue mir diesen Gefallen Frank ‒ ich werde dir die allerhöchsten
Tantiemen zahlenEr werde „Tantiemen erhalten“ [Wagner 1983, S. 251] hatte Adele Sandrock auch in ihrem Brief vom 5.10.1910 (siehe oben) Arthur Schnitzler in Aussicht gestellt.. ‒ Bittedreimal unterstrichen.! | Was macht
meine geliebte Tilly? Und deine süßen KinderchenWedekinds Töchter Pamela (geboren am 12.12.1906) – sie war das Patenkind von Adele Sandrock und ihre Schwester Wilhelmine, wie Wedekind am 29.5.1907 in Berlin festhielt: „A. Pamela wird in der Mattiaskirche getauft. Adele und Wilhelmine Sandrock als Taufpaten“ [Tb] – und Kadidja (geboren am 6.8.1911).? Seit Ihr Alle wohl? Wie geht es dir? Hoffentlich gut.
Ich sende Euch Allen herzinnige Grüße und Küsse. Auch Mama und Willy
grüßen herzlich!
Schreibe mir bitte sogleich deine Ansicht
darüber ‒ und hilf mir lieber Frank,
damit ich nicht betteln brauche auf meine späteren Tage. Sage noch Niemanden
was, denn die Sache soll wie eine Bombe einschlagenAdele Sandrock hatte ähnlich auch an Arthur Schnitzler am 5.10.1910 geschrieben (siehe oben): „wenn ich den Varieteschritt tue, dann muß es wie eine Bombe einschlagen.“ [Wagner 1983, S. 251], wenn ich deiner Hilfe
sicher bin.
Herzlichst, wie stets, deine getreue
Adele Sandrock.
Leibniz 60. Charlottenburg