Paris, den 28 Mai 1899. ‒ 49 rue
Bonaparte.
Lieber Herr Stollberg,
sehr spät komme ich dazu, Ihnen einen Brief zu schreiben,
der mir seit 6 MonatenWedekinds letzter Brief an den Direktor des Münchner Schauspielhauses, ganz von einer Streitsache um seinen Bruder (siehe unten) geprägt, lag rund sechs Monate zurück [vgl. Wedekind an Georg Stollberg, 22.11.1898]. auf dem Gewissen liegt. Diese Verzögerung kann höchstens
dadurch entschuldigt werden, daß ich in der verflossenen Zeit sehr angestrengt
arbeitete und außer den zum Leben direct notwendigen Briefen mit niemandem
correspondirte.
Es thut mir sehr leid, auf eine SacheDonald Wedekind hatte sich im November 1898 in München Grete Stollberg gegenüber, der Gattin des Direktors des Münchner Schauspielhauses, ungebührlich betragen (vermutlich ein verbaler oder tätlicher sexueller Übergriff), über den Georg Stollberg empört war. zurückkommen zu
müssen, die dazu angethan war, Sie aufs tiefste zu verletzen, aber erlauben Sie
mir, Ihnen meine Art darauf zu reagieren, verständlich zu machen. Die
Ausdrücke, die Sie in Ihrer Mittheilung an michnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Georg Stollberg an Wedekind, 18.11.1898. auf meinen Bruder anwandten, | kann
niemand auf seinen Bruder anwenden lassen, mag derselbe gethan haben, was er
will. Gestehen Sie mir, lieber Herr Stollberg, daß Sie bei der großen
Liebenswürdigkeit, die Ihr Wesen für gewöhnlich charakterisirt, wenn Sie in
Zorn geraten ein Hitzkopf sind, so wie ich das auch bin. Erlauben Sie mir, zu
Ihrer Ehre vorauszusetzen, daß Sie in meinem Falle nicht anders
gehandelt haben würden als ich, nur hätten Sie vielleicht nicht so lange auf
diese Zeilen der Versöhnung warten lassen. Wollen Sie mir also bitte den
Gefallen thun, Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin mein tiefstes Bedauern über
den Vorfall auszudrücken. Ich bitte Sie, auch Herrn und Frau SchmedererCajetan Schmederer, in zweiter Ehe mit Marie Schmederer (geb. Neubauer) verheiratet, war inzwischen – zusammen mit Georg Stollberg – Direktor des Münchner Schauspielhauses [vgl. Neuer Theater Almanach 1900, S. 158]. von
diesen Zeilen in Kenntnis zu setzen.
Mit großer Freude habe ich von Ihren mannigfachen und steten
Erfolgen des verflossenen Winters gehört und gratulire Ihnen zu der
beneidenswerthen Position die Sie sich durch Ihre künstlerische Arbeit | geschaffen.
Was mich betrifft, so habe ich mein Stück endlich fertigWedekind hat in Paris sein Stück „Ein gefallener Teufel“, die Urfassung des „Marquis von Keith“, fertiggestellt [vgl. KSA 4, S. 413]. und werde in den
nächsten Tagen nach Leipzig reisenWedekind reiste von Paris über Köln nach Leipzig, wo er am 2.6.1899 abends eintraf und sich den Behörden stellte. Die Presse meldete: „Der s.[einer] Z.[eit] in die ‚Simplicissimus‘-Affäre verwickelte, wegen Majestätsbeleidigung verfolgte und flüchtig gewordene Franklin Wedekind hat sich heute Abend, direct aus Paris kommend, der hiesigen Polizeibehörde freiwillig gestellt.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 93, Nr. 277, 3.6.1899, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. 4365] Wedekind war zunächst in Leipzig in Untersuchungshaft, dann bis zum 3.2.1900 auf der Festung Königsstein inhaftiert. um meine Strafe abzusitzen. Eines liegt mir
besonders am Herzen, Ihnen zu schreiben: Fürchten Sie nicht daß ich nach Ablauf
der Strafe direct nach München kommen und Ihnen etwa zur Last fallen sollte.
Ihre Pflicht, Ihr Kunstinstitut vor erschütternden Ereignissen zu wahren, würde
Ihnen direct verbieten, mich wieder zu engagierenGeorg Stollberg, der Wedekind im Sommer 1898 als Sekretär, Dramaturg und Schauspieler am Münchner Schauspielhaus engagiert hatte, das Engagement aber am 30.11.1898 mit Wedekinds Flucht nach Zürich als beendet anzusehen war, hat Wedekind nicht wieder engagiert. und ich würde vor der Hand
anderwärts auch mein Fortkommen finden. Um so sicherer rechne ich aber darauf,
daß wir trotz unseres unerfreulichen Briefwechsels Freunde bleiben werden,
sowie ich auch in Zukunft nicht aufhören werde, für meinen Bruder zu thun, was
irgend in meiner Kraft steht. Ich habe ihm augenblicklich rentable Arbeit bei
den ZeitungenDonald Wedekind war 1899 „Redakteur an der Zürcher Post“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 322]. verschafft und hoffe nur, daß auch Sie vielleicht noch |
dazu kommen werden, Ihr hartes Urtheil über ihn zurückzunehmen.
Lieber Herr Stollberg, ich hätte Ihnen noch sehr viel zu
schreiben, aber die begreifliche Aufregung in der ich mich befinde hindert mich
daran. Beantworten Sie mir bitte diese Zeilen nicht; der Brief würde mich
vermutlich nicht mehr treffen; ich warte nur auf Geld, um zu reisen.
Empfehlen Sie mich bitte aufs beste Ihrer geehrten Frau
Gemahlin, sowie Herrn und Frau Schmederer, und seien Sie selber herzlichst
gegrüßt von Ihrem
ergebenen
Frank Wedekind.
Darf ich Sie noch ersuchen, meinen Vorsatz betreff der Reise
nicht in die Öffentlichkeit gelangen zu lassen.