München
December 1884
Türkenstraße 30
Rückgebäude
Liebe Cousine, Du
bist uns gewiß recht böse (Armin
u Fr) daß wir so lange
nichts von uns hören lassen, von Lenzburg nicht und jetzt da wir in MünchenDie Brüder Armin und Frank Wedekind waren Ende Oktober von Lenzburg aufgebrochen [vgl. Frank Wedekind an Bertha Jahn, 6.11.1884], um in München zu studieren. Sie wohnten zusammen in der Türkenstraße 30 im 1. Stock; Armin Wedekind studierte Medizin, Frank Jura. sind auch nicht, trotzdem du uns so freundlich geschriebenMinna von Greyerz hatte in der letzten Augustwoche 1884 (am 25.8.1884 oder etwas später) Lenzburg verlassen, um am Königlichen Konservatorium in Dresden Gesang und Klavier zu studieren. Überliefert ist von ihr ein Kartenbrief, den sie an die ganze Familie Wedekind geschrieben hatte [vgl. Minna von Greyerz an Familie Wedekind, 14.9.1884]. hast.
Aber jetzt will | ich auch alles wieder gut zu machen suchen, und darum in
meinen Nachrichten gründlich verfahren in der Hoffnung, daß du dadurch
vielleicht wieder mit deinen reuigen Vettern zu versöhnen bist. – In den Tagen
des ExilsDresden., in einsamen
Stunden in weiter Ferne hast du vielleicht dann und wann an jemanden gedacht,
der sich nicht recht klar darüber ist, ob du eigentlich zürnend von ihm
schiedest. Du weißt wen ich meineAdolf Spilker, der als Apotheker in der Lenzburger „Löwenapotheke“ Bertha Jahns beschäftigt war [vgl. zu ihm zuletzt Frank Wedekind an Minna von Greyerz, 24.8.1884].. – Spilker hatte jenes verhängnissvolle Wort gesprochen in einem
theatralischen Pathos mit dem Bewußtsein, der leider unumgänglichen
Notwendigkeit klar ins offene Auge zu schauen und alles andere was du darin
gelesen hat ihn sehr überrascht. Deinen Abschiedsbrief wußte er sich anfangs
nicht zu deuten und pries alle Himmel, als ich, der erfahrene Sterngucker
dazukam und ihm dies u jenes aufs beste zurechtlegte, so daß des Pudels Kern
endlich nicht mehr gar so erschrecklich aussah wie er sich zuerst in der Hülle
leidenschaftlicher Satzgebilde den Anschein gegeben hatte. Darauf bat und
beauftragte mich der einigermaßen beruhigte Adolf ich möchte ihn doch dir
gegenüber | in Schutz nehmen, ich möchte ihn doch dir gegenüber
verteidigen ecet und dich bitten, ihm doch nicht solch unerqickliches Andenken
zu bewahren. Leider hab’ ich schon längst all das Für- und Gegen dieses
weitläufigen Widerspiels vergessen und kann deshalb nichts tun, als dich
bitten, Deinerseits selber das möglichst Beste von der ganzen Sache, speziell
von meinem Freunde zu denken. Spilker hatt’ ich indessen Gelegenheit in allen
erdenklichen Lebenslagen kennen zu lernen und hab ihn nie anders als durch und
durch gediegen und tactvoll gefunden. Und, nicht wahr, ich darf ihm in meinem
nächsten Briefe Versöhnung ankünden? Es wird ihm um so erquicklicher sein, da
er sich an seinem gegenwärtigen AufenthaltWie Frank Wedekinds Vater berichtete, hatte Adolf Spilker zum 1.10.1884 eine Stelle in Oldenburg angenommen, um seinem kranken Vater in Vilsen näher zu sein [vgl. Friedrich Wilhelm Wedekind an Frank Wedekind, 1.7.1884]. nicht gerade sehr wohl fühlt und nicht selten im kühlen
Norden an glücklichere Tage im sonnigen Lenzburg zurück denkt. –
Die großen Ferien in Lenzburg sind mir schneller verflossen,
als irgend ein Zeitraum meines Lebens. Du ahnst wol schon wieder, aus welchem
Grunde. Und dem, liebe Cousine, hast du es auch zuzuschreiben, daß ich keine
Sylbe von mir hören ließ. Aber nicht wahr, du erläßt es mir jetzt, meinem |
Versprechen gemäß, dir eine Abhandlung über die Erkenntnistheorie zu geben. Ich
bin und lebe seit geraumer Zeit so unphilosophisch wie nur möglich und verlor
deshalb gerade die Erkenntniß
TheorieWedekind dürfte sich hier auf Arthur Schopenhauers Erkenntnistheorie, insbesondere auf dessen Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (Leipzig 1819) beziehen. vollständig aus dem Auge. Sie behauptet ja, daß die Dinge nicht so sein
müssen, wie wir sie sehen, hören, fühlen ect. sondern wahrscheinlich anders,
vielleicht auch gar nicht, sind. Denn wir besitzen kein Mittel um die
Zuverlässigkeit unserer Empfindungsnerven zu erweisen, können die durch jene in
uns erzeugten Vorstellungen nicht mit der Wirklichkeit vergleichen, nicht
ermitteln ob die Wirklichkeit unseren Vorstellungen entspricht, ja ob es
überhaupt nur eine Wirklichkeit giebt; denn eben das was wir so nennen, ist ja
nichts weiter als das Ensemble unserer Vorstellungen. Und wie trostlos muß dies
alles für den Glücklichen sein, der nicht nur gegenüber solchen Zweifeln seine
Subjektivität geltend macht, sondern außerdem, | darüber hinaus noch allerlei
fühlt, sieht und hört, was auch die unphilosophischen Menschen in das Gebiet
der Phantasie, der Einbildung, der Hypersubjektivität verweisen!!! Und nun rate
einmal, meine liebe Minna, –– was mir diesmal übers Leberlein gekrochen. Daß es
nichts Alltägliches, daß es etwas ganz besonderes ist, kannst du dir ja denken.
Aber was? – Es nimmt mich in der Tat recht wunder, ob du auf die richtige
Fährte gerätst. Damen haben in der Regel in solchen Dingen einen bedeutend
feineren Instinkt, als wir plumpen, bärenhaften Männer. Ein Wort, ein Blick,
ein zarter Wink genügt ihnen, um mit klaren Augen die Carten ihres Nächsten zu
überblicken. Übrigens will ich Dir sagen wie sie heißt. Ihr Name ist LauraDer Name Laura ist bekannt geworden durch Petrarcas „Sonette an Laura“ (1470), die die europäische Liebeslyrik bedeutend beeinflussten.
O Laura, LauraWedekind zitiert hier eine Variante der Strophen 40 und 41 seines 43 Strophen umfassenden Gedichts „Der Kuss, in seiner Entstehung und Fortentwicklung bis zur höchsten Vollkommenheit nach dem Leben dargestellt“ [KSA 1/I, S. 155-160]. Das in der Erstfassung auf den 19.9.1884 datierte und aus 5 Teilen bestehende Gedicht ist Bertha Jahn gewidmet, der Wedekind die Teile I-IV von München aus zusandte [vgl. Wedekind an Bertha Jahn, 18.12.1884] und mit Kommentaren zurück erhielt. Sie liegen zusammen mit Fragmenten zu Teil V (Strophen 36-37, 40-41, 42-43) in einem Kuvert mit der Aufschrift „Gedichte an Bertha Jahn“ (der Name in hebräischen Lettern) [vgl. KSA 1/II, S. 1247-1249]. tausend
Seligkeiten
In einen einzgen Augenblick gedrängt
Die Freuden aus der Menschheit Jugendzeiten
Vom schönsten Zuge der Natur gelenkt.
Der Kindheit unschuldsvolle zarte Spiele
Verwandelt in unendlichen Genuß –
O Laura, alle seligen Gefühle
In einem einzigen
und so geht es weiter. |
Aber wer diese LauraBertha Jahn, mit der Wedekind nach Minna von Greyerz Abreise nach Dresden eine erotische Beziehung begann. ist, – das zu erraten überlaß’ ich
deinem Scharfsinn. Uebrigens glaube nicht, daß ich dich hinters Licht führen
will. Meine Laura existiert
wirklich. Sie leibt und lebt in Lenzburg, ist in Lenzburg geboren, und auch du
genießest die Gunst des Geschickes, ihre hehre Persönlichkeit zu kennen Daß ich
unter solchen Umständen die Herrlichkeiten Münchens anfangs nur mit halben Ohr,
mit halbem Auge in mich aufnahm, wirst du selbstverständlich finden. Ich irrte
in den Straßen dieser Stadt trostlos umher, wie Max PiccolominiFigur aus Friedrich Schillers dramatischem Gedicht „Die Piccolomini“ (1799), dem zweiten Teil seiner Wallenstein-Trilogie. Auf der Kantonsschule Aarau hatte Wedekind sie in der II. Klasse gelesen [vgl. Programm der Aargauischen Kantonsschule, Schuljahr 1880/81, S. 16]. – Im 4. Akt scheint Max Piccolomini geistig abwesend. im virten Act ums Haus herum: und deshalb ging es auch
ungewöhnlich lang, bis es mir gelang, mich für eine der hiesigen Schauspielerinnennicht ermittelt. zu erwärmen.
Übrigens mag der Grund auch darin liegen, daß einem in der Tat die Wahl schwer
wird. Die eine singt bezaubernd, die andere besitzt eine entzückende Figur und
das Minenspiel einer dritten ist so hinreissend, daß es zur Mode des Tages
gehört, davon hingerissen zu werden. Aber du weißt ja liebe Minna, daß ich von
jeher ein Feind der Tagesmode war, oder vielmehr ein | großer Freund, denn sie
macht es mir möglich für meine Person immer etwas Apartes zu haben. Und so
huldige ich auch in dieser Branche nicht dem Geschmack der Welt, sondern meinem
eigenen, der nicht unbedeutend von jenem abweicht. Es haben ihn zwar competente
Leute schon einen verdorbenen Geschmack genannt. Aber mit Unrecht, denn er ist
von jeher so gewesen und nur wenn er durch äußere Einflüße sich änderte, und
wär es gerade zum Guten, zum Reineren, dann könnte man ihn mit Recht einen
verdorbenen Geschmack nennen. Nicht wahr liebe Cousine? ––
Seit wir hier sind, bin ich jede Woche sechs bis sieben Mal
ins Theater gegangen. Wir Studenten haben im Stehparterre ermäßigte Preise und
bilden von dort aus, was den Applaus anbetrifft, ein ausschlaggebendes Centrum.
Und jetzt leb wohl, liebe Minna, antworte mir recht bald und sei tausendmal
gegrüßt von deinem treuen Vetter
Franklin.
Armin
läßt ebenfalls grüßen.