Hochverehrtes
gnädiges FräuleinAdele Sandrock, Schauspielerin am Kaiserjubiläums-Stadttheater in Wien [vgl. Neuer Theater-Almanach 1905, S. 603], mit dem sie einen Jahres-Gastspiel-Vertrag hatte und zuvor von 1902 bis 1904 am Deutschen Volkstheater in Wien engagiert war [vgl. Balk 1997, S. 143]. Berühmt war sie durch ihr Engagement 1895 am Wiener Burgtheater, das sie 1898 kündigte; „dem sensationellen Schritt waren mehrere Auseinandersetzungen vorausgegangen. Pläne zur Errichtung eines eigenen Theaters scheitern.“ [Balk 1997, S. 142] Karl Kraus hatte sie als Darstellerin der Gräfin Geschwitz in der Wiener „Die Büchse der Pandora“-Premiere gewinnen können (siehe unten).! Ich kann
es mir nicht nehmen lassen, Ihnen für Ihre Mitwirkung bei
der Aufführung meines
Stückes meinen tiefsten Dank auszusprechen. Die erschütternden Herzenstöne, die
ich
an jenem AbendDie von Karl Kraus veranstaltete Wiener Premiere von Wedekinds Tragödie „Die Büchse der Pandora“ (1903) fand am 29.5.1905 in geschlossener Vorstellung statt „auf der Bühne des Trianon-Theaters im Nestroyhof [...], das Kraus für diesen Zweck gemietet hatte“ [Nottscheid 2008, S. 141]. Wedekind lernte die Schauspielerin Adele Sandrock „anläßlich der Wiener Aufführung der ‚Büchse der Pandora‘ [...] kennen“ [KSA 5/III, S. 360] – sie spielte die Rolle der Gräfin Geschwitz [vgl. KSA 3/I, S. 548]. zum erstenmal von Ihnen hörte, werde ich wohl schwerlich in
meinem Leben je vergessen. Halten Sie mich, bitte, nicht für einen
Kunstbarbaren, weil ich Sie bis dahin noch nie auf der Bühne gesehen hatte. Ich
war bis dahin nur
zweimal in WienWedekind war ein erstes Mal mit Carl Heine und seinem Ensemble bei einem Gastspiels des Ibsen-Theaters vom 2. bis 12.6.1898 im Carl-Theater in Wien, ein zweites Mal vom 14. bis 22.11.1901 zu einem Gastspiel des Jung-Wiener Theaters „Zum lieben Augustin“ im Theater an der Wien. gewesen und war dabei selber allabendlich beschäftigt.
Ich rechne es mir als ein großes Glück an, daß ich Ihre gewaltige Kunst kennen
lernen durfte, und bitte Sie, daran glauben zu wollen, daß ich die Ehre, die
meiner Arbeit durch Ihre Mitwirkung zuteil wurde, im höchsten Maße zu schätzen weiß.
Sie scheinen mir als Künstlerin dazu auserlesen, überlebensgroße Gestalten derart
zu verkörpern, daß der Zuschauer gezwungen ist, an die Wirklichkeit solcher
Gestalten zu glauben. In diesem Sinne wird
Ihre Kunst meinem Schaffen von heute ab ein Vorbild sein. Ich wüßte mir kein höheres
Glück, als ein Menschenschicksal zu schaffen, das groß und tief genug wäre, daß
Sie Ihre seelische Gewalt völlig darin ausleben könnten, und dessen Darstellung
Ihnen selber dabei mehr menschliche Genugtuung gewährt als die Rolle, die Sie
in meinem Stück so über alle Maßen wundervoll verkörperten. Erlauben Sie mir,
gnädiges Fräulein, Ihnen den Ausdruck größter Verehrung und größter Dankbarkeit
zu Füßen zu legen.
Frank Wedekind.