München, XI.1903Schreibdatum war der 19.11.1903 (siehe unten)..
Lieber HolitscherWedekind war mit dem Schriftsteller Arthur Holitscher „seit 1895 eng befreundet“ [Vinçon 2018, Bd. 2, S. 63], der 1896/97 Mitarbeiter und Redakteur des „Simplicissimus“ war; die Freundschaft hatte nach Wedekinds Rückkehr nach München 1900 eine besondere Qualität [vgl. Holitscher 1924, S. 127-135, 138f., 181-197].!
Deine freundlichen Zeilennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Arthur Holitscher an Frank Wedekind, 11.11.1903. ‒ Arthur Holitscher in Berlin könnte von Wedekinds Erkrankung durch folgende Pressemeldung erfahren und dem Freund in München daraufhin sofort geschrieben haben: „Aus München wird uns geschrieben: Frank Wedekind liegt seit drei Tagen an Lungenentzündung nicht unbedenklich krank darnieder.“ [Berliner Tageblatt, Jg. 32, Nr. 573, 11.11.1903, Abend-Ausgabe, S. (2)] waren mir eine angenehm kühlende
Labe inmitten meines FiebertaumelsMax Halbes Tagebücher geben Auskunft über den Verlauf von Wedekinds Lungenentzündung, die er sich bei einem Gastspiel in Nürnberg (31.10.1903 bis 5.11.1903) zugezogen hatte. Max Halbe notierte am 8.11.1903: „Erhalte gleich nach dem Aufstehen Brf. von Wedekind, daß er mich noch einmal sehen will, bin sehr bestürzt, finde ihn in sehr schlechtem Zustand. Bildet sich ein, er [...] müsse heute sterben. [...] Arzt kommt u. diagnostiziert Lungenentzündung“ [Tb Halbe], am 12.11.1903: „Wedekind auf dem Wege der Besserung“ [Tb Halbe], am 17.11.1903: „Wedek. fieberfrei, aber schlechter Laune“ [Tb Halbe], am 19.11.1903 (Max Halbe war im Begriff, in Richtung Berlin aufzubrechen): „besuche vor der Abfahrt noch Wedek., der aufgestanden“ [Tb Halbe]. Wedekind selbst schilderte seiner Mutter im Rückblick den Ablauf seiner da schon überstandenen Krankheit [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 3.12.1903].. HeuteWedekind ist am 19.11.1903 zum ersten Mal aufgestanden, wie Max Halbe an diesem Tag notierte (siehe oben). bin ich zum ersten Mal aufgestanden,
meine Fähigkeiten sind immer noch sehr beschränkt, so daß dieser Brief wol
nicht sehr ergiebig ausfallen wird. Aber es thut mir wohl, Dir für Deine
liebenswürdige Theilnahme zu danken. Auch ich finde, daß mir das Pech etwas
weniger Anhänglichkeit beweisen dürfte, aber wenn von heute ab alles gut geht,
dann bin ich immer noch mit einem blauen Auge davon gekommen.
Ich glaube aus Deinen Zeilen ersehen zu können, daß Du Dich
in Berlin ungemein glücklich fühlst. Das wundert mich nicht, denn Du verkehrst
dort offenbar in einer literarisch sehr reservirtenzurückhaltenden. Gesellschaft, in der
trotzdem wol das Zünftigedas Bodenständige, Rustikale, Urige. nicht so zur Betonung gelangt wie hier in München.
Das HerdenbewußtseinModebegriff (im Anklang an moralphilosophische Erörterungen Friedrich Nietzsches). wuchert hier in solchem Maße, daß ich mich oft versucht
fühle, die Feder ohne weiteres aus der Hand zu legen, da es ja doch fast
unmöglich ist, sich irgend eine eigene originelle Empfindung zu wahren. Ich
habe immer noch den Vorsatz, mich für diesen Winter möglichst auf meine vier
Wände zu beschränken, und vielleicht wird mir die Ausführung jetzt durch meine
Krankheit erleichtert. Aber jetzt gehen mir die Gedanken aus, die ich heute
seit vierzehn Tagengenau gerechnet seit dem 5.11.1911, dem letzten Tag von Wedekinds sechstägigen Gastspiel in Nürnberg, bei dem er sich die Lungenentzündung zugezogen hatte und nach der letzten Vorstellung sofort zurück nach München gefahren sei, wie er seiner Mutter im Rückblick berichtete [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 3.12.1903]. zum ersten Mal wieder zu sammeln suchte.
Habe noch einmal herzlichen Dank für Deine freundliche
Theilnahme. Mit den besten Wünschen für Dein Wohlergehen und den herzlichsten
Grüßen Dein
Frank Wedekind.