Darf ich Sie höflichst ersuchen, Ihrem geschätzten
Leserkreise drei Fragen vorzulegen. Vor mehreren Monaten wurde die Aufführung meiner
KomödienDruckfehler, statt: Komödie. „Oaha“ ohne Angabe eines Grundes rundweg verbotenDie Münchner Zensurbehörde hat eine Aufführung von „Oaha“ am 24.5.1911 erneut verboten [vgl. KSA 5/III, S. 286; KSA 8, S. 608, 620f.].. Herr Polizei-Präsident
von der Heydte gab mir darauf freundlichst GelegenheitWedekinds Gespräch mit dem Polizeipräsidenten Julius von der Heydte fand am 2.6.1911 in Gegenwart von Georg Stollberg, dem Direktor des Münchner Schauspielhauses, im Münchner Polizeipräsidium statt [vgl. KSA 5/III, S. 286; KSA 8, S. 608]. Wedekind notierte an diesem Tag: „Audienz mit Stollberg beim Polizeipräsidenten“ [Tb]., mich nach den Gründen
zu erkundigen und entgegnete mir auf meine Frage: „Sie haben die öffentliche Meinung gegen sich. – Solange das der Fall ist,
gebe ich Ihr Stück nicht frei“. Vor einigen Wochen nun reichte ich dem Königlichen
Hoftheater auf AnregungWedekind sah Fritz Basil und Albert Steinrück am 3.8.1911 in der Torggelstube – „T.St. Basil Steinrück“ [Tb] – in geselliger Runde, wo die beiden Münchner Hofschauspieler angeregt haben dürften, den „Kammersänger“ dem Münchner Hoftheater anzubieten – er wurde zu Lebzeiten Wedekinds dort nicht aufgeführt [vgl. KSA 5/III, S. 286]. der Herren Basil und Steinrück meinen „Kammersänger“
ein. Der Kgl. Hoftheaterintendant, Freiherr von Speidel, sagte mirWedekind suchte Albert von Speidel, Generalintendant des Königlichen Hof- und Nationaltheaters, Residenztheaters und Prinzregententheaters in München [vgl. Neuer Theater-Almanach 1912, S. 550], am 20.9.1911 auf und schrieb abends im Hoftheaterrestaurant den vorliegenden offenen Brief: „Besuch bei Speidel. [...] HTR. Zeitungsnotiz geschrieben.“ [Tb] Bei diesem Besuch dürfte die dann zitierte Äußerung gefallen sein [vgl. KSA 5/III, S. 286]. darauf mit
der ritterlichen Liebeswürdigkeit, die ich so sehr an Seiner Exzellenz schätze:
„Lassen Sie mir Zeit. Es ist nicht so leicht. Sie wissen, Sie haben eine Partei gegen
sich.“ Ich bin nun
aufrichtig davon überzeugt, dass für die königliche Hoftheaterintendanz bei der
Annahme und Ablehnung von Stücken gar keine anderen Gesichtspunkte als die rein
künstlerischen massgebend sind, ebenso wie ich auch sicher bin, dass für die königliche
Polizeidirektion bei ihren Massnahmen absolut keine anderen Interessen als die
der öffentlichen Wohlfahrt in Berücksichtigung kommen. Auf Grund dieser
Ueberzeugung aber fühle ich mich berechtigt, an die breiteste Oeffentlichkeit
drei Fragen zu richten:
1. Was hat die öffentliche Meinung gegen mich?
2. Welche Partei hat etwas gegen mich und wo ist diese
Partei zu finden?
3. Kommt es in der Kunststadt München in künstlerischen
Fragen wirklich nicht darauf an, was jemand kann, sondern darauf, was er gegen
sich hat?