Sehr verehrter Herr Stollberg!
Sofort nach unserer heutigen BegegnungWedekind hat im Tagebuch für den 13.2.1912 keine Begegnungen vermerkt, für den 12.2.1912 und dann gleichlautend nochmals für den 14.2.1912 aber einen Besuch bei seinem Verleger Georg Müller („Bringe Müller Wetterstein“). ging ich zu meinem
Verleger Georg Müller und erfuhr dort zu meinem Bedauern, daß über „Franziska“
schon mit dem Lustspielhaus VertragDer Vertrag zwischen dem Georg Müller Verlag und Eugen Robert, Direktor und Oberregisseur am Lustspielhaus in München [vgl. Neuer Theater-Almanach 1912, S. 558], das umbenannt wurde in Münchner Kammerspiele (eröffnet am 1.7.1911) [vgl. Neuer Theater-Almanach 1913, S. 554], wo „Franziska“ am 30.11.1912 unter der Regie von Eugen Robert uraufgeführt wurde, ist nicht überliefert. geschlossen wurde. Der Grund war wohl in
erster Linie, daß sich Herr Direktor Robert sehr dringend um das Stück beworben
hat. Erlauben Sie mir nun, geehrter Herr Stollberg bei dieser Gelegenheit noch
einmal darauf zurückzukommen, | daß das ganze Ergebnis unserer gemeinsamen
zehnjährigen Arbeit, bei der ich Ihrer Kunst, Ihrer Führung und Ihrem Theater
mehr zu verdanken habe als allen übrigen Theaterleitern zusammengenommen, daß
dies Ergebnis brach liegt. Begreiflich ist es mir ja und ich sehe auch keinen
Ausweg. Während 95 % der
Theater absolut nichts von mir wissen wollten haben Sie jedes meiner Stücke
aufgeführt. Begreiflich wäre es, wenn sich dieser so weit vorgeschobene Posten
nicht behaupten ließe. Am besten kann ich | Ihre Sympathie für meine Kunst
sicherlich dadurch rechtfertigen, daß ich möglichst viel aus/s/wärts
spiele. Soeben habe ich ein GastspielWedekind reiste am 28.4.1912 von München ab zu einem Gastspiel am Stuttgarter Hoftheater, wo er „Erdgeist“ (am 6.5.1912) und „Marquis von Keith“ (am 9. und 11.5.1912) spielte [vgl. Tb]. mit dem Hoftheater Stuttgart
abgeschlossen. Diesen Weg kommen werde ich möglichst energisch verfolgen.
Dann kommen Sie vielleicht doch noch dazu den Dank für das ganz
außergewöhnliche große Vertrauen zu erndten, das Sie seit vierzehn Jahrenseit 1898, als Wedekind bei Georg Stollberg am Münchner Schauspielhaus als Sekretär, Dramaturg und Schauspieler engagiert war. in
meine Arbeiten setzten. Am Tagder 30.10.1898 – ein Tag nach der Münchner „Erdgeist“-Premiere am 29.10.1898 im Münchner Schauspielhaus. Wedekind floh, um der Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung im Zusammenhang mit der „Simplicissimus“-Affäre zu entgehen, am 30.10.1898 frühmorgens aus München nach Zürich [vgl. Wedekind an Beate Heine, 12.11.1898]. Wer ihm an diesem Tag die kolportierte Äußerung über „Erdgeist“ erzählte, ist nicht bekannt. nach der ersten Erdgeistaufführung erzählte man
mir, daß der Baron SchewitschWedekind dürfte sich an Serge von Schewitsch auch erinnert haben, weil dessen Tod (27.9.1911) und Beerdigung (30.9.1911) in München nicht lange zurück lag. 1898 war der aus russischem Adel stammende Sozialist, ein weitgereister Journalist, der mit einer Münchner Schauspielerin verheiratet war, eine schillernde Persönlichkeit der Münchner Boheme. Noch unter der Direktion von Emil Drach ist im Münchner Schauspielhaus das Schauspiel „Elena“ von Serge von Schewitsch aufgeführt worden (Premiere: 7.5.1898) [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 51, Nr. 211, 7.5.1898, General-Anzeiger, S. 1] – mit nur mäßigem Erfolg. Fritz Strich kommentierte hier: „Bekannte Münchner Persönlichkeit, Gatte jener Frau, um derentwillen Lassalle im Duell fiel. Er nahm sich selbst das Leben.“ [GB 2, S. 370] Sie gefragt habe wie Sie ein solches Schundstück
geben könnten Und daß Sie ihm geantwortet hätten: Sie hätten die Überzeugung,
daß ich | in zehn Jahren einer der meistgespielten d/A/utoren wäre. Dies
Wort klang mir seither oft in den Ohren und ich werde es nie vergessen, obschon
Ihnen die Zeit nicht recht gab. Mit der Bitte, Ihrer Frau Gemahlin meinen
Handkuß zu bestellen und herzlichem Gruß
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
München 13.2.12.