Lausanne e.ct. 84
Liebe Mina,
Herzlichen Dank für Deinen lieben langen Briefvgl. Minna von Greyerz an Wedekind, 2.7. bis 3.7.1884. und für die gütige Verzeihung meiner
Sünden. Herzlichen Dank für die große Nachsicht, mit der du deinen nachlässigen
VetterWedekind und Minna von Greyerz waren durch ihre Mutter Sophie von Greyerz, geborene Wedekind, weitläufig miteinander verwandt. in allen
Angelegenheiten behandelst und alle Götter mögen dich belohnen für das schöne GedichtBlanche Zweifels Gedicht („Mir war so weh den ganzen Tag“) schrieb Minna von Greyerz auf Seite 4 ihres Briefs (siehe oben) ab. von Bla Frau Zweifel, das ich mit der Andacht eines betenden Muselmannsim 19. Jahrhundert übliche Bezeichnung für Muslime (nicht pejorativ gemeint). gelesen habe.
Und soeben erhalte ich noch sogar Deine liebe GeburtstagskarteMinna von Greyerz’ Postkarte mit ihrem Geburtstagsgedicht („Zu Deinem frohen Wiegenfeste“) [Minna von Greyerz an Wedekind, 23.7.1884]., die mich erst darauf aufmerksam
macht, daß ja heuteAm 24.7.1884 wurde Wedekind 20 Jahre alt. mein Geburtstag ist. | In allem Ernste, ich hätt es um ein
Haar vergessen und auch Willi
gratulirte mir erst als er mir um Mittag deine Carte brachteWilliam Wedekind, der beim Kaufmann Emile Ruffieux in Lausanne eine Kaufmannslehre machte, wohnte wie sein älterer Bruder Frank seit 1.5.1884 bei dem Tierarzt Emile Daniel Gros..
Es sind ganz famose KnittelKnittel- oder Knüttelvers: „(gewöhnlich paarweise) gereimter vierhebiger Vers; als (auf das 16. Jh zurückgehende) Reimversform volkstümlicher, auch (burlesk-)komischer sowie bieder-deutschtümelnder Dichtungen“ [Goethe-Wörterbuch, Bd. 5, Stuttgart 2011, Sp. 478 (https://www.woerterbuchnetz.de/GWB), abgerufen am 22.05.2024].,
das erste Kind Deiner Muse, daß/s/ ich
seit Anbeginn meines
ExilsAm 1.5.1884 hatte Wedekind Lenzburg verlassen, um ein Semester an der Académie de Lausanne moderne Sprachen und Malerei zu studieren. erhalte. – Ich wollte dir eben darum schreiben, mir doch einmal einige
Klänge aus deiner straffbesaiteten Laute zukommen zu lassen. Und nun erhalt ich
ganz unversehens diese ergötzliche Beschreibung des lenzburger Jugendfestesam Freitag, den 18.11.1884, veranstaltetes Traditionsfest in Lenzburg. Das seit dem 16. Jahrhundert jedes Jahr im Juli veranstaltete Fest für die Jugend begann traditionell mit Böllerschüssen, enthielt zudem die Bewirtung der Jugendlichen, Sport- und Musikauftritte sowie eine abendliche Tanzveranstaltung für Jung und Alt. – Das Folgende bezieht sich auf Minna von Greyerz’ Brief vom 2.7. bis 3.7.1884.. Meinen herzlichs/e/n
Dank auch hierfür. –––––
Dier sehr bezeichnende
Ausdruck „Drehpeter„DREHPETER, m. nennt man im gemeinen leben einen im handeln und in der bewegung langsamen mensch, bei dem nichts einen rechten fortgang hat“ [DWb Bd. 2, S. 1368]. – Wedekind bezieht sich hier und im Folgenden auf Minna von Greyerz’ Brief vom 2.7. bis 3.7.1884.“
war mir ganz neu, aber ich merkte bald was damit gemeint war. Nur darfst du
meiner | Jungfer Muse keine Drehpeterei vorwerfen. Dagegen muß ich energisch
prostestiren, denn ich bin ihr Ritter und sie meine minniglich verehrte Dame,
die ich beschützen werde und auf die ich keinen Schatten fallen lassen darf. –
Höh/r/e nun, liebe
Minna, meine Auseinandersetzung und du wirst gewiß zugestehen daß ich recht
habe, ohne beizufügen, „daß ich im Geheimen dir wol doch hätte beistimmen
müssen[“].
Vielseitigkeit und Wetterwendigkeit oder, nach deiner Bezeichnung
„Drehpeterei“ ist ein großer Unterschied. Und was den Naturgenuß anbelangt, so
steh ich jetzt noch immer auf gleicher Stufe wie früher. Du schreibst
„Besonders wenn man ...... Probleme | höherer Art lösen will, so eignet sich zu
solcher Betrachtung doch keine Umgebung besser als die freie Natur, dieses
Eldorado der Vollkommenheit.“ Was die Vollkommenheit anbelangt, so wirst du in
Tante Plümachers BuchOlga Plümachers philosophische Abhandlung „Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart“ (Heidelberg 1884). an verschiedenen
Stellen genügend Belehrung darüber finden. Ich sage dir aber, die Betrachtung
meines kleinen Fingers oder einer gewöhnlichen Stubenfliege eignet sich ebenso gut dazu wie die freie Natur mit all’ ihren Sternenzelten,
Sonnen Monden Blumenteppichen, Wohlgerüchen e.ct. In
meinem kleinen Finger oder in einer Stubenfliege liegen ebenso viel ungelöste
Räthsel wie in der ganzen Herrlichkeit des Weltalls verborgen und wenn ich den
gestirnten Himmel anschaue, so ist er mir |
II.
eben ein gestirnter Himmel und bringt mich in meinen Forschungen
um keinen Schritt weiter. Und den Gottesglauben, der sich auf solche
Effektstücke stützt, halte ich für recht oberflächlich und unvollkommen. Mich
läßt in dieser Beziehung der Himmel kalt und ich müßte mich recht irren wenn es
nicht letzten Winter b eben bei solch
einer Gelegenheit gewesen wäre, wo ich dir das Geständniß dieses Wärmemangels
beim Hinte Hinuntergehenbeim Hinuntergehen vom Schloss Lenzburg in die Stadt Lenzburg, wo Minna von Greyerz wohnte. am Abend
machte. ———— Dieser Art von Einfluß ist es also gewiß nicht, den/ie/
ich in der freien Natur suche, es ist eine ganz anderereSchreibversehen, statt: andere.. Es ist nur die Stimmung, die verschiedenen Nüancen zwi von
und zwischen Dur und Moll die sich sicher | nur in Landschaftsbildern so
wirksam so mittheilsam finden. Wenn ich also in die schöne Natur hinausgehe so
betracht ich erst in zweiter Linie diese Natur selbst und die Stimmung, die
sich dabei mir aufdrängt, ist nicht
selten sehr verschieden von der, in der ich unter dem Einfluß meiner schönen
Umgebung über anderes NachsinneSchreibversehen, statt: nachsinne..
Und daßs ist eben die Hauptsache, das
ist es was ich genieße und weßwegen ich die Enge und Stimmungslosigkeit des
Zimmers fliehe,. Aber ich werde solchen
Stimmungen nie gestatten auch nur den geringsten Einfluß auf meine ernsteren
Betrachtungen zu erringen. – Wenn dir nun diese lange Abhandlung nicht mundenSchreibversehen, statt: mundet., so gieb nicht mir die
Schuld. Ich hab’ nur gegenüber meiner Dame Ritterpflicht | erfüllt und hoffe
dafür, daß mir meine Muse auch bald wieder einen Begeisterung erfüllten Hymnus
anstimmt. ———— Frau Zweifels
Poesiedas oben erwähnte Gedicht von Blanche Zweifel-Gaudard. hat mir
außerordentlich gefallen. Zwar glaube ich nicht recht daran, an die
weltschmerzliche Stimmung, die ihren Hintergrund bildet. Dazu ist Frau Zweifel
selber ein viel zu harmonisches Wesen; sie paßt so wenig zum Weltschmerz wie Jupiter(griech.: Zeus) in der griechisch-römischen Mythologie der höchste Gott in der Hierarchie der Götter. zum Christenthum. a/A/ber
das schließSchreibversehen, statt: schließt. doch alles
nicht aus, daß sie trotzdem nicht dann und wann weltschmerzlich gestimmt sein
könnte. Hoffentlich möge das neuerstandene Freundschaftsbündniß grünen und
gedeihen in alle Ewigkeit. Möge kein neidisches Geschick mit schwarzer Hand den
| schönen Knoten der Liebe lösen, möge die herrliche Blume, noch herrlichere
Früchte tragen und noch nach Jahr und Tag, wenn rauhe Stürme der Prüfung
vorüber gesaust, wenn die Flamme der Leidenschaft schadlos daran emporgeleckt,
wenn die alles zerstörende Zeit sich die harte Stirne eingerannt an dem
felsenfesten Tempelbau eures hehren Herzen Glaubens, möge dann unsterblicher Lorbeer die unerschütterliche Treue kröhnenSchreibversehen, statt: krönen. und der Triumph eurer
Liebe ein Beispiel und Muster sein für alle kommenden Geschlechter von Ewigkeit
zu Ewigkeit ––––– Amen.
Dein dich liebender
Vetter
Franklin.