Sehr verehrter Herr JacobsohnSiegfried Jacobsohn, als Schriftsteller und Herausgeber der Zeitschrift „Die Schaubühne“ ausgewiesen, wohnte in Charlottenburg (Dernburgstraße 25, Gartenhaus) [vgl. Berliner Adreßbuch 1911, Teil I, S. 1217] – das war zugleich die Redaktionsadresse.!
Empfangen Sie meiner Frau und meinen herzlichen
Dank für das prächtige GeschenkSiegfried Jacobsohns Buch „Max Reinhardt“ (1910), das mit zahlreichen Abbildungen im Verlag von Erich Reiß in Berlin erschienen ist und die Bühnenarbeit des Regisseurs seit 1902 behandelt (eine Zusammenstellung von früheren Beiträgen des Verfassers zum Thema). Das Buchgeschenk dürfte mit einem Begleitschreiben oder mit einer Widmung versehen gewesen sein ‒ nicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Siegfried Jacobsohn an Wedekind, 23.12.1910., das Sie uns auf den Weihnachtstisch gelegt
haben. Am heiligen AbendWedekind notierte am 24.12.1910: „Tilly sagt mir unter dem Weihnachtsbaum, Bescherung, daß sie guter Hoffnung ist. Trinke mit Tilly schwedischen Punsch gehe um 5 Uhr zu Bett.“ [Tb] war uns beiden eine helle Freude all die Erinnerungen
durchzufliegen und wieder aufzufrischen. Ich finde auch daß das Schöne, was uns
Reinhardt geschenkt hat, in Ihren Aufsätzen einen sehr lauteren Spiegel findet.
Jedenfalls ist Ihr Buch das schönste Denkmal, das Reinhardt bis jetzt errichtet
wurde. Die geistvollen Scenerien erschei|nen mir in den Reproduktionen beinahe
noch schöner als sie auf der Bühne waren. Ich möchte beinah behaupten daß
Reinhardt Ihnen für das warmherzige Buch zu größerem Dank verpflichtet ist als
die moderne Literatur ihm, wobei ich ihm die herrliche Gestalt, die er meinem
Frühlings Erwachen verliehen hat, sicherlich sehr hoch anrechneMax Reinhardt hat Wedekinds „Frühlings Erwachen“ (1891) am 20.11.1906 an den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin uraufgeführt, eine sehr erfolgreiche Inszenierung, die „den eigentlichen Durchbruch Wedekinds als Bühnenautor markiert.“ [KSA 2, S. 920]. Die Maler
werden sich ganz besonders über Ihr Werk freuen, die ihre leicht vergänglichen
Schöpfungen hier der Vergessenheit entrissen sehen. Im großen ganzen glaube
ich, daß Sie in der That stolz darauf sein dürfen, keine Sammlung von Kritiken
hergestellt zu haben. Denn in allem was ich in dem Buch las fand ich | einen höheren
Gesichtspunkt gewahrt als er bei der Tageskritik die sich doch mit allen
erdenklichen Kleinigkeiten herumbalgen muß, vielleicht überhaupt möglich ist.
Sicherlich hat Ihnen Ihre zehnjährige Arbeit Ihne in diesem Buch auch
einen schönen bleibenden Dank eingetragen. Jedem Leser ist das Buch ein Beweis,
daß Sie auf Ihr Lebenswerk mit demselben Stolz zurückblicken können wie andere
auf das ihre.
Mit herzlichsten Grüßen von meiner Frau und mir
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
München 30.12.10.
Beste Wünsche zum neuen Jahr und für alles
Künftige!