Lieber Frank, ich bin zwar sehr müdeTilla Durieux hat den Brief am 3.7.1904 offenbar spät abends nach der von Wedekind im Tagebuch notierten letzten Vorstellung des Berliner Ensemble-Gastspiels („Abschiedsvorstellung des Kleinen Theaters“) geschrieben, in deren Zusammenhang sie ihn noch einmal gesehen haben dürfte. Zwar hatte er an diesem Abend einen von ihm auch notierten Auftritt („Tantenmörder“) beim Kabarett Sieben Tantenmörder (er trat vom 25.6.1904 bis zum 3.7.1904 dort täglich auf). Die beiden Vorstellungen fanden gleichzeitig statt, wie das Bühnenprogramm ausweist: „Münchner Volkstheater. (Josephspitalstraße.) [...] Abend-Vorstellung: Letztes Gastspiel des Kleinen und Neuen Theaters zu Berlin. Nachtasyl. Anfang 8 Uhr, Ende nach ½11 Uhr. [...] Intimes Theater (Kaimsaal). Täglich Abends 8¼ Uhr. Münchner Künstler-Cabaret, 7 Tantenmörder: Rabbi Esra. (Wedekind in der Titelrolle als Gast.)“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 306, 3.7.1904, S. 5]. Wedekind dürfte gleich nach seinem Auftritt zum Münchner Volkstheater geeilt sein, anders lässt sich der Eintrag beider Bühnenereignisse im Tagebuch nicht erklären. Tilla Durieux stand in Maxim Gorkis „Nachtasyl“ auf der Bühne (im Programm war für ihre Rolle noch die bereits abgereiste Gertrud Eysoldt angegeben), wie die Presse berichtete: „Am Sonntag verabschiedete sich das Ensemble mit einer ausgezeichneten Wiederholung des ‚Nachtasyls‘ von Gorki mit Reinhardt als Luka und Fräulein Durieux als Nastja. Den Darstellern wurde überaus lebhafter Beifall gespendet“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 308, 5.7.1904, Vorabendblatt, S. 2]., aber ich muß Dir doch
noch schreibenDer Brief dokumentierte eine Liaison zwischen Wedekind und Tilla Durieux, von der Wedekind zwölf Jahre später, am 3.8.1916 in München, dem befreundeten Joachim Friedenthal erzählte: „Mit Friedenthal im Reginacafé erzähle ihm Affäre Durieux“ [Tb]. Hintergrund dieser Liaison war das äußerst erfolgreiche Ensemble-Gastspiel des Kleinen und des Neuen Theaters zu Berlin (Direktion: Max Reinhardt) vom 17.6.1904 bis 3.7.1904 ‒ „Die Berliner Gäste haben ihr Gastspiel im Volkstheater noch bis zum 3. Juli verlängert“ [Allgemeine Zeitung, Nr. 284, 26.6.1904, Münchener Stadt-Anzeiger, S. 10] ‒ am Münchner Volkstheater, an dem Wedekind starken Anteil nahm (zumal in diesem Rahmen auch sein „Erdgeist“ mit Gertrud Eysoldt als Lulu aufgeführt wurde). Er hat dem Tagebuch zufolge den Abend (16.6.1904) vor dem Beginn des Gastspiels mit dem Ensemble, zu dem Tilla Durieux gehörte, verbracht („Später mit dem kleinen Theater im Hoftheater Restaurant“), am 17.6.1904 die erste Vorstellung mit einem Stück von Maxim Gorki gesehen („Abends Nachtasyl“), am 18.6.1904 die zweite Vorstellung mit einem Stück von Maurice Maeterlinck („Abends Schwester Beatrix“), am 23.6.1904 eine Nachmittagsvorstellung mit einem Stück Friedrich Schillers („Matinee v. Cabale u. Liebe“) ‒ „Die Lady Milford gab Frl. Durieux mit unmittelbar hinreißender Leidenschaftlichkeit, die sich freilich auch manchmal über die Grenzen einer an höfische Form gewöhnten Dame verirrte“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 291, 24.6.1904, Morgenblatt, S. 2] ‒ und am 24.6.1904 die Schauspielerin („Durieux“) sowie die Vorstellung seines eigenen Stücks („Abends Erdgeist“) notiert (darin spielte Tilla Durieux keine Rolle); er registrierte am 3.7.1904 auch die „Abschiedsvorstellung des Kleinen Theaters“ [Tb].. Wer ich bin wirst Du vielleicht errathen und ich
brauche nicht meinen Namen hinzusetzen, denn wer weiß, eingesperrt hast Du mich
schon ein mal also vielleicht läßt Du diesen Brief drucken und ich kann ihn,
wenn er auch in einer mir ungewohnten SchriftKurrentschrift; sonst schrieb Tilla Durieux in lateinischer Schrift. geschrieben ist, nicht mehr
ableugnen.
Weißt Du, daß ich Dich sehr lieb habe? Und doch konnte ich
gesternWedekind hat am 2.7.1904 zwar „Tantenmörder“ [Tb] notiert (seinen Auftritt beim Kabarett Sieben Tantenmörder), er dürfte aber wie am 3.7.1904 (siehe oben) gleich nach seinem Auftritt zum Münchner Volkstheater geeilt sein, um die vorletzte Vorstellung des Berliner Ensemble-Gastspiels zu sehen, wenn auch nicht von Anfang an, vielleicht aber noch rechtzeitig, um Tilla Durieux auf der Bühne zu erleben und sie anschließend zu fragen, ob sie nicht mit zu ihm kommen wolle. Gespielt wurden auf dem „Serenissimus-Abend, den die Berliner Gäste am Samstag veranstalten“ [Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 305, 2.7.1904, Morgenblatt, S. 2], Einakter; in einem davon, „Familienidyll“ (von Oscar Méténier), spielte Tilla Durieux die Hauptrolle der Amalie [vgl. Münchner Neueste Nachrichten, Jg. 57, Nr. 305, 2.7.1904, General-Anzeiger, S. 1]. nicht mit Dir kommen denn ich hatte und habe das Gefühl, daß es Dir ganz egal ist, wenn Du mit nach Hause
nimmst und das mußt Du doch einsehen, daß das etwas peinliches für mich hat.
Wenn ich mich schenke, dann tue ich es weil ich Dich gern | und wenn ich Dich
gern habe kann ich den Gedanken nicht vertragen, daß Du über alles Dich lustig
machst, was ich vielleicht tief empfinde. Ich
sehe Dich ja auch jetzt schon mit emporgezogenen Augenbrauen sitzen und das
Epistellängerer Brief. des empfindsamen Jüngferleins lesen. Und dann noch eines, ich fühle daß
ich Dich sehr lieben würde, weil mir Dein Verstand Deine blitzartigen
Teufeleien sehr imponieren und ich fühle, daß da etwas Großes ist bei dem ich
nicht mitkann das hoch über mir steht. Es würde uns beiden aber so eine ernsthafte Sache unangenehm sein. Dir weil Du
eben nicht für so was zu haben bist und mir | weil ich mich doch mit einem
anderen Mannder Maler Eugen Spiro, den Tilla Durieux am 13.8.1904 in Charlottenburg heiratete, ihr erster Ehemann. verbinde. Morgen um 8 Uhr frühAbreise der Ensemble-Mitglieder des Berliner Kleinen und Neuen Theaters von München am 4.7.1904.
fahren wir und ich werde den Brief so aufgeben daß Du ihn erst erhältst wenn
ich weg bin. Im Herbst wenn das Stück von Dir aufgeführtWedekinds neues Stück „Hidalla oder Sein und Haben“ (1904) sollte eigentlich unter Otto Brahm am Lessingtheater in Berlin uraufgeführt werden [vgl. Otto Brahm an Wedekind, 11.4.1904)], was nicht zustande kam. Die Uraufführung von „Hidalla“ fand dann unter der Regie von Georg Stollberg am 18.2.1905 im Münchner Schauspielhaus statt. wird dann sehen wir
uns wieder!