1. Hinweis und Zitat in J. A. Stargardt: Katalog 576 (1966),
Nr. 315:]
WEDEKIND, Frank [...] (Leipzig Juni 1899). […]
Aus der seiner Verurteilung wegen Majestätsbeleidigung
vorangehenden Untersuchungshaft, an „Lieber FreundHans Kaeslin, der sich erinnerte: „Als ich nach drei Jahren nochmals nach Paris kam, war Wedekind wieder da: er hatte wegen eines Spottgedichts auf Wilhelm II. eines Abends von der Münchner Bühne weg, wo er beschäftigt war, [...] in die Schweiz flüchten müssen, um der Verhaftung zu entgehen. Er war gewarnt worden. Er sagte, es sei eine grosse Dummheit von ihm gewesen, sich dem auszusetzen in einem Zeitpunkte, da er sich durchzuringen im Begriffe stand. So beschloss er denn auch, sich den deutschen Behörden zu stellen. Ich verbrachte die Nacht bevor er abreiste, mit ihm; wir wanderten durch Gassen und Anlagen und landeten gegen vier Uhr im Café ‚au chien qui fume‘ bei den Markthallen [...]. Abends begleitete ich ihn zur Bahn: die mir hinterlassene Adresse war die einer ‚Gefangenenanstalt‘ bei Dresden.“ [Kaeslin 1940, S. 74] Gemeint war das Gefängnis in Leipzig (die Gefangenanstalt).“.
„... Der Entzug der FreiheitWedekind hatte seine Untersuchungshaft in Leipzig am 2.6.1899 angetreten, nachdem er sich der Polizei gestellt hat, wie die Presse meldete: „Leipzig, 2. Juni. Der s.Z. in die ‚Simplicissimus‘-Affäre verwickelte, wegen Majestätsbeleidigung verfolgte und flüchtig gewordene Franklin Wedekind hat sich heute Abend, direct aus Paris kommend, der hiesigen Polizeibehörde freiwillig gestellt.“ [Leipziger Tageblatt, Jg. 93, Nr. 277, 3.6.1899, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. 4365] ist mir leichter zu ertragen,
als ich vorausgesetzt ... Grüßen Sie bitte Frau HerweghEmma Herwegh war mit Hans Kaeslin bekannt [vgl. Emma Herwegh an Wedekind, 28.5.1899], den sie in Paris über Wedekind kennengelernt hatte, wie Hans Kaeslin sich an 1894 (sich im Jahr irrend) erinnerte: „Von Wedekind wurde ich im Jahr 95 bei Frau Emma Herwegh, der hochbetagten Gattin des revolutionären Dichters aus den vierziger Jahren des Jahrhunderts, eingeführt.“ [Kaeslin 1940, S. 75] [...] aufs allerherzlichste
von mir. Ich werde ihr gerne schreiben, aber ... ich habe nichts zu schreiben.
Wenn ich zurückdenke an den Morgen au chien qui fumeWedekind erinnert sich an das Lokal Au chien qui fume (es hatte, seinen Namen illustrierend, einen Hund mit Tabakspfeife auf dem Schild) in Paris (Rue du Pont-Neuf 33), das er in seiner letzten Nacht in Paris mit Hans Kaeslin besucht hatte (siehe oben); frühere Besuche dort sind im Pariser Tagebuch notiert am 8.5.1892 („supiren gegen Morgen im Café du chien qui fume bei den Hallen“), am 9.5.1892 („im Chien qui fume bis 2 Uhr morgens“), am 20.6.1892 („soupire au Chien qui fume und gehe gegen vier nach Hause“) am 8.7.1892 („au Chien qui fume“), am 10.9.1893 („wir wollten noch au chien qui fume gehen [...]. Wir gehen also im ersten Sonnenblick des Tages [...] au chien qui fume, wo ich [...] eine Portion Austern und eine Flasche kräftigen Wein bestelle. Wir sitzen am Fenster im ersten Stock und haben das dichte Marktgewühl der Hallen vor Augen“), Eindrücke, die Wedekind in der Erzählung „Bei den Hallen“ (1897) verarbeitete, mit Erwähnung des Lokals: „[...] wir wollten noch au Chien qui fume gehen. [...] So pilgern wir im ersten Sonnenblick des Tages [...] au Chien qui fume, klettern die Wendeltreppe zum Salon hinauf, setzen uns ans Fenster und haben das dichte Marktgewühl der Hallen unter unsern Augen.“ [KSA 5/I, S. 252], welch ein Contrast.
Indessen meine Zelle hier ist alles andere als unfreundlich ... Wenn Sie Frida
sehenFrida Strindberg hielt sich in Paris auf [vgl. Wedekind an Hans Richard Weinhöppel, 22.5.1899]., dann sagen Sie ihr nicht, daß Sie Nachricht haben, sonst wird sie
eifersüchtig auf Sie und ich muß es ausbaden ... die Freiheit ist doch das
Schönste und ich sage heute nicht wie vor einem Jahr in meiner Stellung am
Münchner SchauspielhausWedekind war vor seiner Flucht am 30.10.1898 aus München infolge der drohenden Verhaftung wegen Majestätsbeleidigung am Münchner Schauspielhaus (Direktion: Georg Stollberg) als Dramaturg und Sekretär [vgl. Neuer Theater-Almanach 1899, S. 443] sowie als Schauspieler [vgl. Wedekind an Beate Heine, 27.7.1898] tätig gewesen ‒ offiziell seit dem 2.9.1898 (Beginn der neuen Spielzeit), nach dem am 22.8.1898 mit Georg Stollberg geschlossenen Vertrag [vgl. Wedekind an Beate Heine, 25.8.1898]. Die Münchner Presse meldete zur Eröffnung des Hauses am 7.9.1898 unter neuer Leitung, der neue Direktor Georg Stollberg habe „als Dramaturgen den Schriftsteller Frank Wedekind gewonnen.“ [Allgemeine Zeitung, Jg. 101, Nr. 243, 3.9.1898, S. 6: Pourvu que ça doure!(frz.) Wenn’s nur so bleibt! – Zum geflügelten Wort gewordener Ausspruch von Napoleon Bonapartes Mutter Letizia Bonaparte angesichts der Siege ihres Sohnes, eigentlich: „Pourvu que cela doure!“ [Hippolyte Larrey: Madame Mère. Bd. 2. Paris 1892, S. 2]; auch Napoleon selbst zugeschrieben: „Ich wünsche dem Herrn Abgeordneten Glück zu der Geschicklichkeit, aber ich möchte ihm als Warnung zurufen, was der französische Dachdecker im Fallen sagte: Ça va bien, pourvu que ça doure. (Heiterkeit.)“ [Fürst Bismarcks Reden. Bd. 5. Leipzig 1895, S. 264]“
[2. Referat im
Gedächtnisprotokoll (EFFW):]
Brief Wedekinds an Hans Käslin. Leipzig (Untersuchungshaft,
Leipzig), o.D. [Juni 1899]. [...]
‒
Wedekind berichtet von einem BesuchCarl Heine hat Wedekind Anfang Juni 1899 in der Untersuchungshaft in Leipzig besucht [vgl. Wedekind an Richard Weinhöppel, 27.7.1899]. Carl Heines in Leipzig; Heine habe
Aussichten auf die Direktion des Burgtheaters;
‒
er berichtet, daß die Untersuchungshaft auf das Strafmaß angerechnetWedekind wurde am 3.8.1899 von der Strafkammer des Königlichen Landgerichts in Leipzig wegen Majestätsbeleidigung in den „Simplicissimus“-Gedichten „Im heiligen Land“ (1898) und „Meerfahrt“ (1898) zu einer Gefängnisstrafe von sieben Monaten verurteilt; davon abgezogen wurde ein Monat Untersuchungshaft; er wurde dann zu Festungshaft begnadigt, die er am 21.9.1899 auf der Festung Königstein antrat und am 3.2.1900 entlassen wurde [vgl. KSA 1/II, S. 1710]. werden
wird;
‒
er bittet, das „Buch“ an Carl Heine zu schickenHans Kaeslin in Paris schickte das von Wedekind dort zurückgelassene Manuskript „Ein gefallener Teufel“ (die Urfassung des „Marquis von Keith“, in der ersten Konzeption unter dem Titel „Ein Genußmensch“) an Carl Heine nach Hamburg [vgl. KSA 4, S. 413], wo dieser es erst nach seiner Rückkehr aus Berlin am 23.6.1899 vorfand [vgl. Carl Heine an Wedekind, 26.6.1899].; als Titel nennt er den (oder
die) „Genussmenschen“;
‒
er erinnert an den letzten Abend in Paris in „le chien qui fume“;
‒
er bittet, Grüße an Emma Herwegh auszurichten;
‒
er erwähnt, Frida Strindberg müsse sich noch in Paris aufhalten.
[...] Wedekind [...] erwähnt, er fühle sich trotz der
Mauern, die ihn umgeben, innerlich frei [...]