Aarau, den 3ten Juli 1913.
und den 4ten August.
Sehr geehrter Freund!
Vor etwa drei Wochen hat mir Ihr Münchner
Verleger auf Ihre Veranlassung hin die ersten vier BändeDie dann neunbändige Ausgabe „Frank Wedekind. Gesammelte Werke“ erschien seit dem Vorjahr im Georg Müller Verlag (München und Leipzig). Band 1 (1912) enthält die Gedichtsammlung „Die vier Jahreszeiten“, das Versdrama „Der Stein der Weisen“, die Erzählsammlung „Feuerwerk“ und das Romanfragment „Mine-Haha“, Band 2 (1912) die Dramen „Die junge Welt“, „Frühlings Erwachen“ und „Fritz Schwigerling (Der Liebestrank)“, Band 3 (1913) „Erdgeist“, „Die Büchse der Pandora“ und „Der Kammersänger“, Band 4 (1913) „Der Marquis von Keith“, „König Nicolo oder So ist das Leben“ und „Karl Hetmann, der Zwergriese (Hidalla)“. der im Erscheinen begriffenen
Gesammt-Ausgabe Ihrer Werke zugesandt, ein Geschenk, des durch die von Ihrer
Hand eingetragenen Widmungnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Hans Kaeslin, 16.6.1913. für mich einen besonderen Wert erhält. Ich hielt es
nicht für angebracht, mich auf der Stelle an den Schreibtisch zu setzen und
Ihnen mit den üblichen paar Zeilen zu danken. Die schmucken Bände reizten mich
vielmehr dazu, bevor ich mich bedankte, wieder einmal die Zeugnisse Ihres
Denkens und Schaffens genau zu durchgehen, Ihre Gedichte und Dramen, soweit sie
hier vereinigt sind, nochmals zu lesen. Das habe ich nun getan, mit un|erkaltendem
Interesse, und nun möchte ich ‒ ja nicht
etwa eine Kritik schreiben, aber Ihnen doch einige Gedanken mitteilen, die mir
bei der Lektüre aufgestiegen sind.
Wenn ich recht urteile, so liegt Ihre Bedeutung
mit in erster Linie darin, daß Sie mit einem Witz, der auch vor dem Cynismus nicht zurückschreckt, wieder einmal die Dessousvon (frz.) dessous (= darunter): Unterwäsche. des Lebens aufgedeckt haben, das Mycelium(lat.) Pilz.
‒ Mühlbergschen AngedenkensAnspielung auf Friedrich Christoph Mühlberg, von 1866 bis 1911 Lehrer für Naturgeschichte an der Kantonsschule Aarau, ein Lehrer Wedekinds. Bei der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft war vor Jahrzehnten diskutiert worden, dass „die Vegetations-Verhältnisse für den Pilz günstiger werden, wenn einmal die Gonidien mit Mycelium umsponnen seien“ ‒ mit einem Diskussionsbeitrag von „Herr Prof. Mühlberg“ [Verhandlungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft. Jahresbericht 1867. Aarau (1868), S. 90]; er war Präsident der Aargauischen Naturforschenden Gesellschaft und hat in deren Versammlungsjahr 1867/68 in Aarau einen thematisch einschlägigen Vortrag gehalten: „Herr Professor Mühlberg: Der Cholera-Pilz“ [ebd., S. 243]. ‒ auf dem der Pilz wächst, bloßgelegt und
insbesondere auch wieder gezeigt zu haben, was in einem und demselben Menschen
an Trieben und Leidenschaften und Gedanken und moralischen ‒ das Wort im weitesten Sinn genommen ‒ Vorstellungen und Werten nebeneinander leben
kann, ohne daß das Gefüge der Persönlichkeit gesprengt würde. Es ist
auffallend, wie Sie in allen Lebensäußerungen doch immer Wedekind | bleiben.
Diese Einzigartigkeit Ihres Wesens stellt sich überall in unverkennbarer Weise
dar; sie liegt zu Tage ebensowohl im Marquis v. Keith, wo der Dialog meines
Erachtens noch nicht zu voller Lebenswahrheit gediehen ist, wie in der Büchse
der Pandora, aus der das Leben, ich möchte sagen das „geschundene“ Leben
sozusagen herausschreit. Dabei glauben Sie nicht, daß ich über dieser
Lebenswahrheit die eminente künstlerische Arbeit übersehe: z.B. Schluß des
Erdgeists, wie SchönDr. Schön, männliche Hauptfigur im „Erdgeist“ und „Chefredakteur“ [KSA 3/I, S. 402], Lulus letzter Gatte, der in der Szene IV/8 stirbt [vgl. KSA 3/I, S. 476]. in’s Nebenzimmer gebracht wird und die Geschwitz
heraustrittdie Malerin Gräfin Geschwitz, Figur im „Erdgeist“ [vgl. KSA 3/I, S. 402] und in „Die Büchse der Pandora“ [vgl. KSA 3/I, S. 478]; in der letzten Szene IV/8 des „Erdgeist“ heißt es: „GESCHWITZ (tritt heraus). SCHÖN (sich bei ihrem Anblick steif emporrichtend) Der Teufel – (Schlägt rücklings auf den Teppich.)“ [KSA 3/I, S. 476]. ‒ das ist zu
einer grauenerregenden Größe gesteigert. Sie haben im Marquis
v. Keith, in TrautenauGraf Trautenau, der eigentliche Name von Ernst Scholz, zweite männliche Hauptfigur im „Marquis von Keith“ [vgl. KSA 4, S. 150]., der Lulu, der Geschwitz, Professor Düringtragische Figur in „Der Kammersänger“ [vgl. KSA 4, S. 12]., dem
KammersängerTitelfigur in „Der Kammersänger“ ist Gerardo, „k.k. Kammersänger“ [KSA 4, S. 12]. Typen geschaffen, die sich nicht vergessen; man mag in Zukunft
wieder Ähnliches auf die Beine stellen, die Priorität der Erfindung, d.h. der
ersten scharfen Beobachtung gewisser Phänomene und | ihrer Typisierung muß Ihre
bleiben. Mit Verwunderung habe ich aus Ihrer VorredeWedekind hat im „Vorwort“ zu seinem Einakter „Der Kammersänger“ bemerkt, dieser sei in Inszenierungen als „Hanswurstiade“ und „Posse“ [KSA 4, S. 10] interpretiert worden. zum Kammersänger ersehen,
daß man auf der Bühne diese Szenenreihe, die ich immer als in ihrer Grundanlage
durchaus ernst empfunden habe, bisweilen in’s Possenhafte verzerrt hat. Für
mich ist der Kammersänger ein Symbol für das Verhältnis überhaupt, in das der
Künstler ‒ ob er schaffe oder reproduziere
‒ zum Leben tritt.
Also man mißversteht Sie gelegentlich? Ich wundre
mich nicht darüber. Es liegt in früheren Werken zweifellos daran, daß noch
nicht alle Gedanken die möglichst prägnante Form erhalten haben, durchweg aber
und das ist die Hauptsache, verzichten Sie auf den Raisonneur(frz.) denkende, auch rechthaberische Person, Besserwisser.
‒ nein, nicht durchweg, Alwa
Schönder Sohn des Dr. Schön im „Erdgeist“ [vgl. KSA 3/I, S. 402], der auch in „Die Büchse der Pandora“ [vgl. KSA 3/I, S. 478] präsent ist. redet bisweilen so; aber mindestens damit irrt eine Person sozusagen als
Bädekerals ein Reiseführer wie der Baedeker, benannt nach den von Karl Baedeker begründeten berühmten Reisehandbüchern. durch das Stück: | s/S/ie lassen jede Person, ohne Rücksicht auf
den Hörer, dem in der Eile mal was entgeht, genau so
reden, wie er seiner Art nach reden würde; ich sollte nicht sagen: Sie lassen
ihn so reden, vielmehr: Sie lassen ihn das sagen, was er sagen
würde, denn die Menschen reden mit wenigen Ausnahmen „wedekindisch“, woran natürlich
durchaus nichts zu tadeln ist.
Warum Sie auf so viel Widerstand gestoßen sind?
Falsch ist es jedenfalls, ein Stück wie den Erdgeist unsittlich zu nennen. Sie
sind ja unerbittlich im Abwägen der
Folgen, die eine gewisse Gestaltung des Intellekts und Gefühlslebens haben muß.
Aber, ganz abgesehen davon, daß die Meisten am Rand eines tiefen | Abgrundes
schwindlig werden und lieber überhaupt nicht hinsehen, so ist natürlich die
Anschauung vom Wesen des Menschen an sich, die sich in Ihren Werken kundgiebt, einigermaßen Furcht erregend. Die
Kant-Schillersche AnschauungHinweis auf Immanuel Kant und Friedrich Schiller; hier: idealistische Weltanschauung., in der wir aufgewachsen sind, zeigt den Menschen
fähig, über gewisse Naturtriebe Herr zu werden, „alle Hunde an die Kette gelegtbildlich: Triebe domestiziert.“.
Bei Ihnen wird Laokoonantike mythologische Figur, in der Kulturgeschichte berühmt durch die Laokoon-Gruppe, die Laokoon und seine zwei Söhne mit zwei ungeheuren Schlangen ringend zeigt, die ihn im Mythos zur Strafe für seine Warnung der Trojaner vor dem hölzernen Pferd erwürgen. wirklich nie mehr frei. Diese
Art, die Menschen zu sehen oder Ihre Art, immer wieder Menschen dieser Sorte
darzustellen, muß Vielen als gefährlich erscheinen, ist es auch wohl insofern,
als sie die Kraft zum Widerstand nicht
stählt. Die Verwirrung, in die NietscheSchreibversehen, statt: Nietzsche (Anspielung auf die starke Rezeption Friedrich Nietzsches). manche Gemüter gestürzt hat, dadurch
daß er gerade das Geistige, was Menschen in | der Regel zusammen bindet,
die bisherigen Moralansichten als Ausflüchte sträflicher Schwäche bezeichnet,
diese Verwirrung wird natürlich durch
Ihre Stücke verstärkt. Mit alledem sich auseinanderzusetzen, das Berechtigte
aufnehmen und doch auf einigermaßen tragfähigem Boden stehen zu bleiben, das
ist nicht Jedermanns Sache.
Wie dem nun auch sei, sicher ist, daß Ihre Originalität
‒ Sie erscheinen mir als einer
der Wenigen, die wirklich sui
generis(lat.) eigener Art. sind ‒ Ihnen eine besondre Stellung im Geistesleben
unsrer Zeit sichert. Mag sein, daß nur
Weniges ‒ ich denke in erster Linie an
den Kammersänger ‒ sich dauernd
in das Repertoire derjenigen Bühnen einfügen werde, die mit dem großen, naiven
Publikum rechnen: mit | Ihrer Persönlichkeit wird sich auseinandersetzen
müssen, wer immer die Grenzlinien des Menschlichen abzuschreiten wünscht u. unsere Zeit verstehen will.
Die Lulu-AufführungenDie fünfaktige Tragödie „Lulu“ wurde unter der Regie von Alfred Reucker mit Johanna Terwin in der Titelrolle am Pfauentheater in Zürich (Premiere: 11.6.1913) inszeniert [vgl. KSA 3/II, S. 1293f.]. in Zürich ‒ ich konnte leider nicht hinfahren ‒ scheinen starken Eindruck gemacht zu haben.
Gestern war ein früherer Schülernicht identifiziert., ein intelligenter Mensch, bei mir, der mit
großem Feuer von einer dieser Aufführungen sprach u. sich seitdem mit Ihren
Werken lebhaft beschäftigt.
Ich wünsche Ihnen gute Tage und sage Ihnen
nochmals verbindlichen Dank. Der Ihre
Dr Hans Kaeslin.