Lenzburg 6.8.95.
Lieber Herr Doctor,
seit zwei Tagen bin ich hier. Gestern war ich in Aarau in
Geschäften und erfahre durch Zufall, daß Sie dort sind. Es war aber schon zu
spät um Sie noch aufzusuchen. Ich bin hier mit der Correktur des Stückes
beschäftigt, das ich in Paris schrieb und das ich jetzt glücklich, um ein sehr
geringes Honorar an LangenWedekind hatte dem Verleger das Manuskript knapp vier Wochen zuvor in Leipzig übergeben [vgl. Wedekind an Albert Langen, Albert Langen Verlag, 10.7.1895]. „Der Erdgeist. Eine Tragödie“ (1895) erschien im Verlag von Albert Langen noch mit der Verlagsadresse „Paris und Leipzig. (Paris 112, Bd Malesherbes)“ [KSA 3/II, S. 858] „Ende September 1895“ [KSA 3/II, S. 835]; das Buch war bald darauf als erschienen verzeichnet [vgl. Wöchentliches Verzeichnis der erschienenen und der vorbereiteten Neuigkeiten des deutschen Buchhandels, Nr. 41, 10.10.1895, Sparte 17]. in Leipzig verkauft. Es würden | mich sehr
freuen Sie wiederzusehen. Vielleicht kommen Sie hierher. Wenn es nicht möglich
ist, würde ich nach Aarau kommen. Ich hoffe Sie werden es mir bei meinem verhetzten
Lebenslauf nicht zu schwer anrechnen, daß ich Ihre freundlichen Cartennicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Hans Kaeslin an Wedekind, 5.2.1895 (und mindestens eine weitere nicht überlieferte Postkarte). nicht
regelmäßig beantwortet und daß ich auch im übrigen meinen Verpflichtungen noch
nicht nachgekommen. Da sich meine Situation noch um nichts geändert hat bitte
ich Sie noch etwas Geduld mit mir zu haben, d.h. wenn das Sie selber nicht in
Verlegenheit bringt. Es ist | mir damals schon schwer genug auf die Seele
gefallen, Ihnen thatsächlich VerlegenheitenHans Kaeslin hat Wedekind vermutlich Geld geliehen, das noch nicht zurückgezahlt war, wodurch er selbst einen finanziellen Engpass hatte. bereitet zu haben. Meine ganze
Hoffnung ist jetzt das Stück das in wenigen Wochen erscheinen wird. Ich
verhehle mir nicht wie schwach die Hoffnung ist. Für den Winter bereite ich mir
hier RecitationsvorträgeWedekind trat im Herbst 1895 in Zürich und wohl auch andernorts unter dem Pseudonym Cornelius Mine-Haha als Ibsen-Rezitator auf [vgl. Wedekind an Ferdinand Hardekopf, 28.4.1901]. vor. Habe ich indessen nur einen geringen Erfolg, so
wird Langen dann auch meine übrigen Sachen drucken, und dann ist mein Name
wenigstens gerettet. Ich bedaure sehr Sie nicht mit meiner Schwester bekannt
machen zu können. Ich habe sie nur einen | halben Tagwohl am 24.7.1895 [vgl. Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 2.8.1895]. in ZürichWedekind war, bevor er am 4.8.1895 nach Lenzburg ging, etwa drei Wochen in Zürich gewesen. gesehen. Hierin Lenzburg. Erika Wedekind trat am 7.7.1895 als Solistin in der vom Musikverein Lenzburg veranstalteten Aufführung von Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ in Lenzburg auf [vgl. Neue Zürcher Zeitung, Jg. 116, Nr. 175, 26.6.1895, 1. Abendblatt, S. (4)], wie angekündigt war: „Fräulein Erica Wedekind, k. Hofopernsängerin in Dresden, hat für die am Sonntag [...] in Lenzburg stattfindende Aufführung der Schöpfung von Haydn ihre hervorragende Mitwirkung zugesagt.“ [Neue Zürcher Zeitung, Jg. 116, Nr. 172, 23.6.1895, Morgenblatt, S. (3)] Ihr Auftritt wurde begeistert rezensiert [vgl. Die Aufführung der Haydn’schen Schöpfung in Lenzburg mit Frl. Erica Wedekind. In: Neue Zürcher Zeitung, Jg. 116, Nr. 188, 9.7.1895, 2. Abendblatt, S. (1)]. Sie blieb danach offenbar gut drei Wochen in Lenzburg, reiste aber ab, bevor ihr Bruder am 4.8.1895 in Lenzburg eintraf.
habe ich sie nicht mehr getroffen.
Bitte schreiben Sie mir, wo und wann wir uns treffen können.
Wenn Sie hierherkommen würde sich jedenfalls auch meine Mutter sehr freuen, Sie
kennen zu lernen. Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich Ihr ErgebenerSchreibversehen, statt: ergebener.
Frank Wedekind.