Berlin 2. Febr. 95.
Schumannstraße 9.
Lieber Herr KaeslinDr. phil. Hans Kaeslin, Lehrer, Übersetzer, Schriftsteller aus Aarau, den Wedekind in jungen Jahren in Lenzburg kennengelernt (sein Vater war dort Musikdirektor) und ihn in Paris wiedergetroffen hatte [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 224f.]. Er erinnerte sich: „Der interessanteste Mensch, mit dem ich in Paris zu verkehren Gelegenheit hatte, war Frank Wedekind, den ich früher nur flüchtigerweise gekannt hatte. [...] zeitweise zu Mitteln gekommen, hatte er sich nach Paris gewandt, dessen Atmosphäre ihm besonders zusagte. Als ich ihn dort traf, lebte er, nachdem er seinen Mammon losgeworden war, in übeln Umständen in einem der kleinen Studentenhôtels im Quartier latin.“ [Kaeslin 1940, S. 73],
wenn Sie wüßten wie ich Sie beneide, würden Sie mir auch
verzeihen, daß ich Ihnen so lange nicht geschrieben. Ich kam gewiß ohne
VorurtheileFrank Wedekind dürfte dann aber in Berlin mit den Urteilen seines Bruders Donald über die Stadt konfrontiert gewesen sein; dieser hielt Berlin für „das Non plus ultra von einer unangenehmen Stadt, ungefähr mit New York auf eine Stufe zu stellen was Ungemütlichkeit des öffentlichen Lebens anbetrifft, die Menschen aber sind unvergleichlich roh und tragen sämmtlich einen unverkennbaren Stallknechtsduft mit sich herum. Der ist nun nicht eingewurzelt, sondern nur äußerlich aber er verbirgt so ungeheuer die gute Natur des Schlages, daß man es aufgiebt darnach zu suchen.“ [Donald Wedekind an Emilie Wedekind, 13.12.1894. Aa, Wedekind-Archiv A II Donald Wedekind, b Autographen] nach BerlinWedekind, der davor lange in Paris und zwischenzeitlich in London war, traf am 20.1.1895 in Berlin ein [vgl. Vinçon 2021, Bd. 2, S. 169]., aber so gräulich hätte ich es mir mit dem
schlechtesten Willen nicht A/a/usmalen können. Ich hungere und dürste
nach Schönheit, daß ich Berlin noch nicht deflorirt brauch ich Ihnen kaum zu
sagen. Ich begreife wie hier die Männer zu PäderastenHomosexuelle mit besonders auf männliche Kinder und Jugendliche gerichtetem Sexualempfinden – von „Päderastie (griech., ‚Knabenliebe‘), auf geistigem und sinnlichem Wohlgefallen beruhende Zuneigung älterer Personen männlichen Geschlechts zu Knaben und Jünglingen und der daraus entstandene innige Verkehr zwischen beiden; dann Knabenschänderei, unnatürliche Befriedigung des Geschlechtstriebes [...] bei Männern am eignen Geschlecht durch Mißbrauch eines jugendlichen Körpers.“ [Meyers Konversations-Lexikon. 5. Aufl. Bd. 13. Leipzig und Wien 1896, S. 406] werden. Ich hatte | mich
schon gefreut, meinen Freund DautendeyWedekind hatte Max Dauthendey „zum letzten Mal in London gesehen“ [Wedekind an Beate Heine, 12.3.1899]. durch den er dort „die Bekanntschaft der neuen deutschen symbolistischen Literatur“ [Wedekind an Ferdinand Hardekopf, 28.4.1901] gemacht hatte. wieder zu finden. Aber er ist vor zwei
Monaten nach Kopenhagen gereist. Nachdem ich hier die ersten vierzehn Tage aus
dem Alcohol nicht herauskam und nur zwei Mal die Woche schlafen ging führe ich
jetzt ein zurückgezogenes Leben, ganz meiner Arbeit gewidmet, die so Gott will
in den nächsten 14 Tagen fertig wirdWedekind arbeitete an dem „wahrscheinlich vorläufigen – Abschluß“ [KSA 3/II, S. 834] seiner Tragödie „Der Erdgeist“ (1895), deren endgültiger Titel noch nicht feststand.. Ich habe sie hier Hartleben, Halbe,
Bierbaum vorgetragenWedekind hatte „in der Berliner Wohnung Hartlebens, um Unterstützung für eine Aufführung des ‚Erdgeist‘ zu erreichen, seine Tragödie einem engeren Kreis naturalistischer Schriftsteller vorgelesen“ [Vinçon 2021, Bd. 2, S. 178], namentlich Otto Erich Hartleben, Max Halbe und Otto Julius Bierbaum. und fand großen Beifall, wenn auch nicht gerade mit den
Partien, die mir die werthvollsten schienen. Über den Unterschied der
künstlerischen | Ansprüche in Paris und Berlin könnteSchreibversehen, statt: könnte ich. nun schon ein dickes Buch
schreiben. Die Welt ist sicher davor. Ich fühle mich weniger als je zum
Theoretisiren aufgelegt. Die ersten zehn Tage lebte ich hier mit meinem BruderDonald Wedekinds Adresse in Berlin war Belle-Alliance-Straße 98 (2. Stock rechts) [vgl. Emilie (Mati) Wedekind an Frank Wedekind, 3.1.1895]; er wohnte in Untermiete bei der Kaufmannswitwe H. Bölter (geb. Borrmann) [vgl. Berliner Adreß-Buch für das Jahr 1895, Teil I, S. 123]. Die Wohnung seines Bruders dürfte Frank Wedekinds Anlaufstelle bei seiner Ankunft in Berlin gewesen sein.
Donald zusammen. Dann bekamm er plötzlich wieder einen Anfall von
Verrücktheit und reiste Hals über Kopf nach Wien. Seither bin ich mehr Herr
meiner Zeit. Aber wo in aller Welt soll ich hier die Stimmung hernehmen aus der
heraus ich in Paris gearbeitet. Wo man hinsieht, rechts und links, hinten und
vorn, im Theater und im Café, in den Nachtspelunken und in den Philharmonie
Concerten nichts als langweilige rohe geistesbarebar jeden Geistes, geistlose. | Physiognomien. In LondonWedekind reiste am 23.1.1894 von Paris ab nach London [vgl. Tb], blieb dort bis Mitte Juni und kehrte dann nach Paris zurück.
war ich tiefunglücklich. Aber welch reine himmlische Welt ist London gegen
Berlin. Lange werde ich es in dieser Atmosphäre von Gewöhnlichkeit und
Albernheit jedenfalls nicht aushalten. Da geh ich schon lieber nach München wo
das Volk wenigstens eigenartig genug ist um auch natürlich sein zu können. Wie
manche Nacht habe ich schon vom Café D’Harcourtdas Café d’Harcourt (Boulevard Saint-Michel 47) im Quartier Latin in Paris (5. Arrondissement); Wedekind hat es dem Pariser Tagebuch zufolge oft besucht. geträumt. Wenn Sie RachelWedekind lernte am 5.6.1892 im Bal Bullier in Paris Rachel Decoulange, „eine Pariser Kokotte, kennen. Die Beziehung mit ihr hielt er bis zu seiner Abreise [...] nach London aufrecht. Er schildert im Tagebuch ausführlich ihre soziale Herkunft und ihren Lebenswandel; Treffpunkt für gemeinsame Unternehmungen war meist das Café d’Harcourt“ [KSA 5/III, S. 654]. Wedekind hat dann später in seiner Ballade „Pharo“ (1915) an die „Einstgeliebte“ [KSA 1/II, S. 697] gedacht [vgl. KSA 1/II, S. 1962], wie seine Notiz vom 6.11.1915 nahelegt: „Ich erzähle Friedenthal die letzte Nacht bei Rachel Decoulange und beginne zu Hause das Gedicht Pharo“ [Tb]. sehen,
bitte grüßen Sie sie von mir. Sie wird nicht darüber spotten. Sie ist eine von
den wenigen Frauen, die mich wirklich geliebt haben. Ich bin ihr übrigens auch
noch 25 frs. schuldig. Aber sie hat dafür
mein | Bild und die Erinnerung an manche schöne Stunde. Haben Sie Baron KainachFriedrich von Khaynach, Maler und Schriftsteller, mit dem Wedekind in Paris verkehrte [vgl. Otto Julius Bierbaum an Wedekind, 9.6.1893], der dann nach Rom ging [vgl. Otto Julius Bierbaum an Wedekind, 15.2.1894], zwischenzeitlich in Zürich war [vgl. Donald Wedekind an Frank Wedekind, 8.8.1894] und wieder nach Paris zurückzukehren überlegte [vgl. Wedekind an Otto Erich Hartleben, 15.9.1894].
wieder gesehen? Ich habe ihm auch noch nicht geschrieben und fürchte sehr daß
ihn mein Brief jetzt nicht mehr in seiner früheren Wohnung findet, da er sich
im Quartier so gut gefiel. Waren Sie vielleicht mal mit ihm bei Barattedas Baratte (Rue du Montparnasse 52), eine Kneipe im Quartier de Montparnasse in Paris (14. Arrondissement), in dem es musikalische Darbietungen gab und die genannte Raimonde (siehe unten) verkehrte; Wedekind hat am 6.9.1893 in Paris notiert: „Ich gehe also zu Barat, finde meinen früheren Platz am Fenster unbesetzt und betrachte mir das Publicum. [...] Der Mandolinenspieler ist durch einen dicken Violinisten ersetzt. Der Guitarrenspieler ist gleichfalls neu. Nur der Bariton mit der großen Nase ist noch der nämliche. Von Reimonde keine Spur. Ich höre mir einige Italienische Arien an und lege mich gegen vier Uhr schlafen.“ [Tb]. Ich habe ihn dort mit Raimonde Made/und/ LuciennePariser Kokotten, die im Pariser Tagebuch erwähnt sind (oft vor allem Raimonde). So notierte Wedekind am 23.1.1894 über Gaston Feer, der ihn zu seiner Abreise von Paris nach London an den Bahnhof begleitet hat: „Auf dem Bahnhofe empfehle ich ihm Alice, Rachel, Germaine, Marie Louise, Raimonde, Madeleine, Lucienne und mein Christkindchen, er möge mich bei ihnen ersetzen.“ [Tb] bekannt
gemacht. Vielleicht hat sich was daraus entwickelt.
Und wie geht es Ihnen, Herr Käslin? Ich werde Ihnen nie
vergessen ein wie lieber Freund Sie mir in der letzten Zeit meines Pariser
Aufenthaltes waren. Ich würde mich unendlich freuen, wenn Sie mich mit Ihrer
ProductionHans Kaeslin hat Gedichte geschrieben. | auf dem Laufenden halten wollten. Versprechungen kann ich Ihnen
nicht machen. Es ist mir selber noch nicht gelungen, in Berlin auch nur ein
einziges Gedicht anzubringen. Die freie Bühne ist nicht mehr was sie warDie Zeitschrift „Freie Bühne“ im S. Fischer Verlag in Berlin, 1890 als „Freie Bühne für modernes Leben“ (1. und 2. Jahrgang) von Otto Brahm gegründet, ein Forum für die naturalistischen Bestrebungen des Vereins Freie Bühne in Berlin, firmierte dann als „Freie Bühne für den Entwickelungskampf der Zeit“ (3. und 4. Jahrgang) und 1894 mit Beginn des 5. Jahrgangs als „Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne)“ (ab 1904: „Die neue Rundschau“); sie hatte nicht mehr ihre programmatische Bedeutung für die frühe Moderne. Wedekind hat in der „Freien Bühne“ nichts veröffentlicht. und in
anderen Zeitschriften ohne Honorar gedruckt zu werden hat nicht viel
Verlockendes.
Gehen Sie öfter zu Frau HerweghEmma Herwegh, die „Witwe des Revolutionsdichters Georg Herwegh“, die seit „1877 wieder in Paris“ lebte, wo Wedekind sie „im Februar 1893 [...] kennen gelernt“ [Vinçon 2014, S. 97] hatte, „wurde seine Vertraute.“ [Hay 1986, S. 351] Er hatte in Paris enge Kontakte mit ihr [vgl. Frank Wedekind an Armin Wedekind, 25.2.1893] und stand mit ihr „im engsten Verkehr“ [Frank Wedekind an Emilie Wedekind, 8.5.1893].? Bitte schreiben Sie mir,
wie es ihr geht. Ich habe von der EmpfehlungEmma Herwegh dürfte Wedekind noch in Paris für einen Besuch bei Otto Brahm, Direktor des Deutschen Theaters in Berlin, eine Empfehlung geschrieben haben [vgl. Wedekind an Otto Brahm, 17.8.1895]. die sie so freundlich war mir zu
geben noch keinen Gebrauch gemacht. Aber ich habe auch Gerhard Hauptmann, Henry
Mackay | und viele andere noch nicht aufgesucht, die ich sicher aufsuchen werde
und die ich mir nur noch etwas aufgespart. Meinen Briefnicht überliefert; erschlossenes Korrespondenzstück: Wedekind an Emma Herwegh, 20.1.1895. wird Frau Herwegh
erhalten haben. Ich bin nicht ungeduldig, habe auch kein Recht dazu. Wenn Sie mir
nur schreiben wollen, ob sie nicht etwa leidend ist. Ich werde ihr in wenigen
Tagen sobald ich den Besuch gemacht ohnehin wieder schreiben. Wollen Sie ihr
bitte meine herzlichste Empfehlung ausrichten.
Und nun leben Sie wohl, lieber Herr Käslin. Seien Sie
glücklich, in Paris zu sein, wo Einen die Natur so mit Genüssen verwöhnt daß
man sich nirgends anders mehr glücklich fühlt. Hoffentlich | sehen wir uns
balder wieder als für den Augenblick ge vorauszusehen, vielleicht
nächsten Sommer in der Schweiz.
Mit den herzlichsten Grüßen
Ihr
Frank Wedekind.